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Lebende Zeitbomben

Schlagloch von Georg SeesslenDie Täter zu kategorisieren hilft, das Unerklärliche zumindest zu ordnen

Foto: privat
Georg Seeßlen

ist freier Autor und hat bereits über 20 Bücher zum Thema Film veröffentlicht. Zuletzt erschien von ihm: „Kunst frisst Geld. Geld frisst Kunst“, gemeinsam mit Markus Metz verfasst (Suhrkamp). Er lebt in Bayern und Italien.

Wie gern würde man ein „Schlagloch“ nutzen, um einmal aus den Teufelszirkeln von Aktualität und Vergessen auszubrechen. Aber dann geschieht wieder etwas, das den ­Luxus des Innehaltens, des Einfach-mal-so-vor-sich-hin-Denkens zunichte macht. In München erschießt vor einem Einkaufszentrum ein Schüler mit deutschem und iranischem Pass neun junge Menschen und dann sich selbst. Aber bevor man dies weiß, bevor die Ängste vor einem terroristischen Großangriff und der Ausbreitung der Gefährdungszonen verschwinden dürfen, vergeht eine Nacht voller Bilderschleifen, Spekulationen, hysterischer Funkenflüge und Fehlinformationen.

Fernseher als Rettungsring

Es ist nicht so, dass hier mal wieder der Medienkritiker zum üblichen Rundschlag ansetzen wollte. Dass enge Angehörige sich nur wenige hundert Meter vom Tatort befinden, welche emotionale Wechselbäder man durchläuft, zu klären, ob alle in Sicherheit sind, dass man am Fernsehapparat klebt wie an einem Rettungsring und sich zugleich von ihm im Stich gelassen fühlt, all das ist eine direkte persönliche Erfahrung dieser Mediennacht. Und als alles vorüber ist, bleibt die Erfahrung von Ohnmacht. Gegenüber dem Anschlag, gegenüber Ordnungskräften, die nicht einmal vermitteln dürfen, ob sie etwas wissen oder nicht, auch gegenüber den Informations- und Bildermaschinen. Und auch gegenüber dem Diskurs oder seinem Mangel. Wer oder was, verdammt noch mal, ist schuld an diesem Schrecken? Und was könnte man tun, um ihn abzustellen?

Was für eine naive Frage angesichts der einzigen Aussage, auf die sich offensichtlich alle einigen: Es gibt keine Sicherheit. Ich muss versuchen, eine Erklärung zu finden, nicht bloß, weil das mein Beruf ist, und weil man das Suchen nach Erklärungen kaum abstellen kann. Sondern auch, weil ich keine Lust habe, mich von Angst, Zorn und Ohnmacht auffressen zu lassen.

Da ist also wieder einer jener jungen Männer, die in der Öffentlichkeit „explodieren“, die sterben wollen, aber vorher noch so viele Menschen mit in den Tod nehmen, wie nur möglich. In der Mediennacht wurde spekuliert, ob es sich wohl um einen islamistischen Terroristen im Auftrag oder zumindest in Beziehung zum IS handle, um einen „psychisch labilen“ Amokläufer oder auch um einen neofaschistischen Attentäter. Dass die äußere Aktion keinerlei Rückschlüsse darauf zulässt, zeigt, wie nahe verwandt diese drei Arten von lebenden Zeitbomben miteinander sind. Man könnte sie vielleicht in drei Haupt- und zwei Nebenelemente einteilen:

Das unlebbare Leben. Ihr eigenes, oft junges, keineswegs stets „objektiv“ verzweifeltes Leben muss so unlebbar geworden sein, dass es nur beendet werden kann. Für so etwas gibt es sehr viele unterschiedliche Gründe. Eine depressive, bipolare Störung; ein unmögliches Begehren; die Unmöglichkeit, einem sexuellen, religiösen oder familiären Erwartungsbild zu entsprechen. Eine rigide homophobe, repressive Religion „erzeugt“ den jugendlichen Gewalttäter ebenso wie eine dysfunktional-ausweglose Familie oder Arbeitsstelle. Oder aber eine Gesellschaft, die außer Karrieren und dem Scheitern an ihnen nichts anzubieten hat und so Druck auf „Identität“ und „Gemeinschaft“ erzeugt. Das unlebbare Leben wird durch die Gewalt nicht lebbarer, aber das Sterben und Sterben-Machen wird zur Erlösung.

Der entfesselte Hass. Diese Erkenntnis des unlebbaren Lebens muss sich verbinden mit einem grenzenlosen Hass auf das gelebte Leben der anderen. Die Mordlust von Selbstmordattentätern und Amokläufern ist ursprünglich nicht durch Religion und Ideologie erzeugt. Sie ist an der Überzeugung entzündet, an diesem lebbaren Leben nicht teilhaben zu können; die Gewalttat erzwingt die Teilhabe, und beendet sie im gleichen Augenblick ein für allemal.

Die Rechtfertigung. Für das Beenden des eigenen Lebens und die Vernichtung von möglichst vielen unschuldigen Menschenleben muss es eine Legitimation, irgendeine Form von Begriff, Idee oder Metaphysik geben. Vorbilder (in diesem Fall Dramaturgien von anderen Amokläufen), Begleitungen (Dschihadistengesänge, Nazirock) und Bilder (der bewaffnete Männerkörper im flammenden Inferno). Die (erweiterte) persönliche Rache gehört genauso dazu wie eine Erlösungsreligion oder die Wiederherstellung einer mythischen Rassen- oder Volksgemeinschaft. Das unlebbare Leben, der entfesselte Hass und die Rechtfertigung gehen die unterschiedlichsten Verbindungen ein, aber immer wird man die drei Elemente miteinander verknüpft sehen.

Selbst geholte Legitimation

Diese Verknüpfung kann sehr langsam entwickelt werden, sie kann aber auch, wie im Fall des Täters von Nizza, sehr rasch ablaufen. Ein wenig hilflos sprechen wir, als relatives neues Phänomen, von einer „Selbstradikalisierung“, womit wohl gemeint ist, dass jemand, der mit einem unlebbaren Leben und einem entfesselten Hass behaftet ist, sich Legitimation selbst holt.

Wer oder was, verdammt noch mal, ist schuld an diesem Schrecken? Wie kann man ihn abstellen?

Ein Nebenelement im Making-of des Selbstmordattentäters ist das Versprechen von Wiedergeburt und Unsterblichkeit. Das zweite Nebenelement ist, was man die „Entladung“ nennen könnte. Sünde und Reinigung verbinden sich in einer Bluttat. Jeder terroristische Anschlag, jeder Amoklauf ist nicht nur ein Schauspiel, sondern auch ein Exerzitium. Alles, was unterdrückt werden musste, Freiheit, Kommunikation, Lust, Körperlichkeit, Tanz und Austausch, wird mit einer Explosion oder einer Anzahl von Schüssen ausgestoßen, erfüllt und ein für allemal beendet.

Nutzt ein solches Theorem, das in der Form der Kolumne so ungesichert und eigensinnig entwickelt werden darf, dieser kleinen Schwester des Essays, die es sich erlauben darf, persönliche Involvierung und Erklärungsversuch miteinander zu verbinden? Vielleicht hilft es ein wenig dabei, aus der Falle von monokausalen Erzählungen der Täterseite herauszukommen. Vielleicht ist es aber auch nur ein Versuch, aus Angst, Hass und Ohnmacht zum aufklärerischen Denken zurückzukehren.

Manchmal möchte eine Kolumne eben einfach nur eine Tür aufmachen. Bevor man erstickt.

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