piwik no script img

Hausbesuch Atmosphäre schaffen und so Begegnung ermöglichen: Ein Kulturverein mit Wagenplatz möchte der Stadt Friedrichshafen wieder etwas Zauber einhauchen – mit viel Liebe zum DetailDen Dilettantismus feiern

von Jonas Seufert (Text) und Patrick Pfeiffer (Fotos)

Friedrichshafen am Bodensee, Industrie- und Messestadt. Große Autozulieferer haben hier ihre Hauptquartiere. Die Rüstungsfirmen liegen westlich der Stadt, direkt am Ufer. Gegenüber türmen sich die österreichischen Alpen auf. Blankgefegte Uferwege, polierte Kirchtürme, beklemmendes Idyll. Eine alternative Kulturszene: bis jetzt Fehlanzeige. Zu Gast bei den Visionär*innen des Kulturvereins Blaue Blume, die das ändern wollen.

Draußen: Ein knappes Dutzend Bauwägen, gedämmt, bunt angemalt und im Kreis am oberen Rand einer Obstwiese arrangiert. Ringsherum Apfelplantagen. Die Sonne schiebt die Hitze in die Wägen, alle paar Stunden kreist das Aushängeschild Friedrichshafens über den Platz: ein weißer Ausflugszeppelin. Vom Kompostklo hat man den besten Blick über das Gelände – bis zum Bodensee, wären da nicht die Apfelbäume. Vier Holzpfosten, darauf ein Dach aus durchsichtigem Kunststoff, Holzplanken auf dem Gras. Auf dem Tisch liegt eine Blümchendecke, das Geschirr steht im Vitrinenschrank daneben. Das Esszimmer.

Drinnen: Auf dem entkernten Veranstaltungsbus steht noch der Schriftzug „Stadtbücherei Wedding“. Drinnen kommt Wohnzimmerstimmung auf. Alles mit Holz verkleidet, ein Schaukelstuhl steht vor einem Kohleofen. Dreißig Leute haben auf dem Boden Platz für Lesungen, Vorträge und Konzerte. Der rosafarbene Küchenbus steht schief, weshalb die Töpfe nie ganz voll werden. Essen vom Gaskocher, fließend Strom und Wasser gibt es nicht. Die Wohn-Bauwägen sind liebevoll gestaltet. Ein Holzofen in jedem, alte Möbel, Lammfelle, selbst gebaute Bücherregale.

Die Kulturbringer*innen: Ferdinand Nehm ist Student an der Zeppelin-Universität ein paar hundert Meter weiter, Soziologie und Politik. Morgens radelt er gern zum Meditieren an den See. Sarah Weber war vier Jahre unterwegs, bevor sie hier ankam. Sri Lanka, Indonesien, Südpazifik, dann als Merch-Girl mit ihrer Lieblingsrockband auf Tour. Nun sammelt und analysiert sie Wasserproben aus dem Bodensee. „Es hat sofort gefunkt, als ich das Projekt zum ersten Mal sah“, sagt sie. Indras Lieblingsplatz ist die Schaukel an ihrem Wagen. Charly und Caren schlafen momentan lieber tagsüber und arbeiten nachts. Und Friedi dreht bald einen Film in Berlin. Sechs Menschen wohnen auf dem Platz, gut zwanzig weitere sind Teil des Kulturvereins. „Hier soll für alle Häfler Platz sein“, sagt Nehm. Die Alteingesessenen Friedrichshafener*innen, die Studierenden, die Asylsuchenden im Containerdorf um die Ecke.

Wem gehört die Stadt? „Niemandem“, sagen Nehm und Weber. „Aber sie wird geschaffen durch alle“, fährt Weber fort. „In einer Stadt haben alle Aufgaben“, sagt Nehm. Die der Verwaltung ist es, Ordnung zu schaffen. Die der Kulturschaffenden ist es, sich Räume anzueignen. „Verwaltungen können keine Kultur schaffen“, sagt Weber. „Sie müssen sie lediglich erlauben.“

Das Klimpernde Glashaus: Zusammengenagelte Fenster auf einem Heuwagen, Open-Air-Bühne, von der auch die Künstler*innen durch die alten Scheiben die Sterne sehen, Herzstück des Kulturvereins. Konzerte, Lesungen, Workshops und Seminare. Gerade geht eine Stummfilmreihe zu Ende, die ein Klavierspieler aus Weimar live vertont. Der Dieselgenerator klingt von Weitem ein bisschen wie die alten Filmprojektoren. „Wir wollen Atmosphären schaffen, in denen Menschen sich begegnen“, sagt Weber. Das Detail zählt (Nehm: „Das ist der Blaue-Blume-Faktor“). Und die Menschen packen mit an. An der Bar, beim Aufhängen der Teelichter in den Apfelbäumen, am Lagerfeuer.

Tanzet und träumet: Hüfthohe Großbuchstaben aus Birkenstämmen stehen im Gras: „Tanzet“ ist da zu lesen. „Mit dem Träumen fängt alles an“, sagt Weber. „Dann erst kommt der Tatendrang.“ Die Utopie als Vor­aussetzung, um Wirklichkeit zu gestalten. Den Zauber haben sie in Friedrichshafen nicht gefunden, also schaffen sie ihn. „Wir wollen Mut machen, Dinge einfach anzupacken“, sagt Nehm. „Eben das Dilettantische feiern.“

Occupy Obstwiese: Studierende der Universität hatten Anfang 2013 die Idee zur „Blauen Blume“. Ein halbes Jahr später sind die ersten Wägen ausgebaut, eine Bäuerin gibt einen Teil ihrer Schafweide für das Projekt frei. Doch die Initiator*innen wollen in der Stadt wirken, der Platz liegt außerhalb und gut versteckt hinter Hecken. Von Anfang an reden die Visionär*innen mit den Behörden. Etliche Zeitungsartikel, Gesprächskreise, Konzerte und Performance-Interventionen später ist klar: Die Verwaltung wird so schnell kein Grundstück bereitstellen. „Deshalb haben wir uns einen freien Raum angeeignet“, sagt Nehm. Seit November 2015 ist die Obstwiese besetzt, nun wollen sie gemeinsam mit der Stadt einen passenden Platz finden (Weber: „Wir wollen endlich Müll- und Abwassergebühren zahlen“). Die Verwaltung wirkt überfordert, der Stadtrat verschiebt seit Monaten den Tagesordnungspunkt „Blaue Blume“.

Die Romantik: Auf dem Küchenbus steht in Schnörkelschrift ein Gedicht von Joseph Eichendorff: „Ich such die blaue Blume, ich suche und finde sie nie“. Ein Ort, der niemals fertig ist, konstante Neuerfindung. Aber auch die vergebliche Suche nach einem dauerhaften Ort für ihr Projekt. „Auch deshalb sind wir zur blauen Blume geworden“, sagt Nehm. Unendlichkeit, Sehnsucht, Träume, Verbundenheit mit der Natur – das symbolisiert die blaue Blume der Romantik, das ist die blaue Blume heute.

Der Abend danach: Wenn sie Grenzen überwinden, dann ist Weber glücklich, sagt sie („Du denkst, oh Gott, da kommt eh keiner, und dann ist es proppevoll“). Am Abend danach ist es am schönsten, sagt Nehm. „Wenn du kaputt ins Bett fällst, dann kommt so ein Gefühl von Zufriedenheit.“ Das Grinsen auf seinem Gesicht muss dasselbe sein, kurz bevor er einschläft.

Und wie finden Sie Merkel? „Sie war mutig“, sagt Weber. „Aber sie müsste noch viel mutiger sein.“ Und Nehm: „Sie ist so weit weg wie nie zuvor.“ Was im Friedrichshafener Lokalteil steht, ist relevanter für seine Utopie.Und am Bodensee war Merkel schon länger nicht mehr.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen