piwik no script img

Es ist Zeit, die Tribüne zu verlassen

DENKENVon Jim Morrisons Grab über das Bataclan ins Stade de France: Was sagt diese Fußball-EM über unsere Zeit aus?

Aus Paris Peter Unfried

Ich hatte mir sieben Mal geschworen, nicht zu Jim Morrison zu gehen. Zu einfach, zu bequem, zu angenehm. Aber nun stand ich doch in Abschnitt 6 von Père Lachaise vor der Gitterabsperrung und sah zu, wie die anderen Fotos von seinem Grabstein machten. Und Selfies mit dem Grabstein im Hintergrund.

James Douglas Morrison. 1943-1971. Manche sehen gar nicht mehr selbst hin. Es reicht, die Kamera in Richtung Objekt zu halten.

Klick, klick, Rock'n'Roll.

Dieser Pariser Friedhof ist wirklich großer Pop: Chabrol, Chopin, Maria Callas, Bécaud, Piaf, Gertrude Stein. Signoret, Trintignant, Oscar Wilde. Sehnsuchtsoberflächen ohne Ende. Laurent Fignon ist auch schon da, der Toursieger der Achtziger. Und eben der Sänger der Doors, der sein Leiden an der Welt in großartige Songs („Light my fire“) und pathetische Lyrik transformierte. „Rest in peace, Lizard King“, steht handgeschrieben auf der Gitterabsperrung, in Referenz zu einem Gedicht Morrisons, in dem er sich zum König der Eidechsen ausrief.

Der Tod ist hier ein Teil der westlichen Kulturunterhaltungsbranche, und deshalb fühlt er sich wie wohlige Routine an. Als sei er auch nur ein Problem, über das man spricht, aber das andere haben. Umso größer ist zwanzig Meter weg von Morrison Hotel dann der Schock der Realität. Ein neues Grab. Ein Berg von frischen Métrotickets kündet davon, dass hier sehr viele Leute stehen bleiben. Beim Näherkommen sieht man als erstes eine blühende rote Rose. Dann das Wort Bataclan. 13/NOV 2015. Dann der Name. Dazu drei Fotos einer jungen Frau, weiß, mittellange dunkle Haare, Mädchenlächeln. Suzon. 21.

Was für eine Scheiße.

Vielleicht sind die Ermordeten des Pariser IS-Terrors ein Hintergrund, warum Kritiker der Fußballeuropameisterschaft den Eindruck gewonnen haben, den Franzosen habe einfach die deutsche Leichtigkeit gefehlt, dieses Fröhliche und Unbeschwerte, das wir während der WM 2006 hingelegt haben und das uns halt so schnell keiner nachmacht. So wie das der belgische Schriftsteller Jean Philipp Toussaint in seinem Buch „Fußball“ beschworen hat: Nichts anderes zählt, nichts anderes existiert, während ein großes Fußballturnier gespielt wird. Nur das Spiel von gestern, das Spiel von heute und das Spiel von morgen. Die erwachsene Welt macht derweil Pause.

Holger Gertz hat in der Süddeutschen sinngemäß geschrieben, der Fußball habe 2016 in Frankreich nicht die Kraft, die Zeit anzuhalten. Stimmt das, und wenn ja, liegt es am Ort oder liegt es an der Zeit? Es stimmt, es liegt am Ort, und es liegt an der Zeit. Und es stimmt eben auch in der nächsten Sekunde nicht, wenn einer das Ding volley reindonnert und es für viele dann doch nichts anderes gibt. So vieles passiert gleichzeitig und nebeneinander, dass auch die schönste Reportage in der SZ den Zeitgeist nicht mehr auf den Punkt bringen kann. Weil es den einen Punkt nicht gibt.

2006 gab es auch schon Terror. Nine Eleven, Madrid, London. Aber kaum einer wusste, was der Islamische Staat ist. Wenn man jetzt mit offenen Augen durch Paris geht, findet man an vielen Orten die Folgen seiner Existenz. An der Ecke Rue Bichat/Rue Alibert wurden Menschen mit Kalaschnikows aus einem vorbeifahrenden Auto erschossen, die vor einem kambodschanischen Restaurant und einem Bistro saßen. Im „Le Petit Cambodge“ hängt ein Mosaik als Erinnerung an elf Ermordete. Auch das „Le Carillon“ (vier Ermordete) ist offen. Ein Handwerker arbeitet im hinteren Bereich an der Renovierung.

Das Bataclan, Ort eines Massakers mit mindestens 89 Ermordeten, ist geschlossen. Hinter einer grün-grauen Einzäunung wurschteln die Maler rum. Ein Infopfeiler davor berichtet, dass hier seit 1864 was los sei, Buffalo Bill und Maurice Chevalier aufgetreten seien, und dass „aktuell“ Varieté und Konzerte stattfänden. Das kommt einem vor wie in dem BAP-Song „Jupp“, in dem es heißt, der kriegstraumatisierte Heimkehrer Jupp erzähle über alles, nur niemals über Stalingrad („Was ist das?“). Es ist gleichzeitig Alltag und andauernder Ausnahmezustand in der Stadt, die Polizisten an den Plätzen künden genauso davon, wie die mit den Gewehren im Anschlag vor den Stadien.

Ein Anfang, dass wir ein Europa des Fußballs haben, das auf jeden Fall

Es ist alles noch sehr nah und daher nachvollziehbar, wenn Leuten nicht danach ist, Fußballfahnen zu hissen und hüpfend durch die Straßen zu ziehen. Oder sich gar in die Masse einer Fanzone zu begeben, die ja ein ideales Ziel ist für jemanden, der möglichst viele westliche Leute auf einen Schlag umbringen will. Damit es hier TV-Sondersendungen gibt. Nur darum geht es.

Der zweite Punkt ist, dass der Fußball in Frankreich nicht mit dem Fußball in Deutschland zu vergleichen ist. Die Zuschauerzahlen der League 1 sind deutlich niedriger als die der Bundesliga. Es gibt eine Tradition in einigen wenigen Arbeiterstädten, es gibt lokal oder regional populäre Clubs, aber keine nationalen Identifikationsflächen und Dauer-Gesprächsthemen. Auch sind dem Mainstream bestimmte Protagonisten nicht mittelschichtig genug. Den neuen Star Antoine Griezmann – Lehrersohn, höflich, weiß –, den kann man vorzeigen. Aber Ribéry, Benzema, früher Anelka? Mal passen ihnen deren Manieren oder Lebensstile nicht, mal dass sie so viel Geld verdienen. Die Euphorie von 1998 kam auch erst kurz vor dem WM-Sieg und ist schnell wieder abgebröckelt.

Der Fußball in Frankreich durchdringt anders als der deutsche nicht alle Schichten und Milieus und ist deshalb auch nicht so wichtig. Auch wenn die Sportzeitung L'Équipe jeden Tag so tut, als sei das so. Paris war und ist vieles, aber es ist keine Fußballstadt. „Das ist anders als in Italien oder Deutschland“, sagte mir ein Pariser Freund. „Man kann sich nicht jeden Tag über Fußball unterhalten.“

In Lille füllten die EM-Gäste den öffentlichen Raum, in Lyon zumindest Teile der Stadtmitte. Paris ist auch groß genug, um so eine EM wegzuschlucken. Das heißt nicht, dass Fußball in Paris nicht gefeiert wurde, aber eben meist von den angereisten Fußballtouristen. Und dort wieder besonders von denen, die erstmals oder selten dabei sind. Die Vergrößerung auf 24 Teams mag entstanden sein, weil das dem Selbstinteresse von Fußballfunktionären und der Erschließung und Erweiterung von Märkten dient, zum Wohl von Rechtehändlern, Fernsehsendern, Sportschuhfirmen und allen angeschlossenen Shareholdern der Wirtschaftszone Fußball.

Der Kollateralnutzen besteht darin, dass der emotionale Teilhabemarkt auch europäisch erweitert wird. Bei Nordiren, Walisern und Isländern spürt man in diesen Tagen die Glückseligkeit derer, die jetzt auch mal was abkriegen. Das Glück und die Teilhabe steigert sich mit jedem Tor des eigenen Teams. Bei österreichischen Fans klappte die Teilhabe sogar, obwohl der Ball ins eigene Tor flog. Was auch sonst? Dachten sie. Egal, wir sind hier, und wir sind dabei.

Man muss das nicht überbewerten. Die Realität ist die britische Entscheidung, aus der EU rauszugehen. Die Realität ist wachsender Zulauf für politische Eskapismusbewegungen und die Illusion eines heilen Nationalstaats. Die Realität ist aber auch ein Fußball, der europäisch funktioniert, europäisch gedacht, europäisch diskutiert und europäisch berichtet wird. Was der EU an Bindekräften jenseits der Ökonomie fehlt (Öffentlichkeit, Kultur, Medien), hat der Fußball.

Jeder kann man mit jedem auf einem Niveau über europäischen Fußball sprechen, das es in keinem anderen kulturellen Bereich gibt. Von Politik ganz zu schweigen. Kein Mensch kennt in Deutschland den holländischen Ministerpräsidenten, keiner in Europa kennt Udo Lindenberg. Aber jeder kann Bastian Schweinsteigers Verletzungen seit 2004 aufzählen.

Europas Fußballländer profitieren auch voneinander. Die einen lernen bei den anderen, die Deutschen taten es nach dem EM-Offenbarungseid 2000. Jetzt lernen die Niederländer gerade von den Deutschen, das muss man sich mal vorstellen. Der Austausch auf einem nicht gerechten, aber gemeinsamen Markt hat dazu geführt, dass Europa in der Fußballwelt so breit konkurrenzfähig ist, dass Island heute in ein Spiel gegen Brasilien mit einer 50/50-Chance geht.

Auch Iren, Nordiren und Waliser profitieren davon. Das hat ihre Fans nach Paris gebracht, um die Métrowaggons zu besingen. Manchmal wird der nicht für seine Herzlichkeit berühmte Einheimische dann sogar höflich, erkundigt sich nach Herkunft einer Gruppe singender Fußballfreunde, gratuliert, fotografiert und nimmt Anteil an deren Freude. Aber wenn der EM-Gast nachts mit heißem Herz durch das Ausgehviertel von Marais geht und wirklich denkt, die Welt drehe sich jetzt schneller, weil sein Team eben ein epochales Spiel hingelegt hat? Dann hat das von den Tausenden, die da sitzen, trinken und reden, kaum einer auch nur mitgekriegt. Es ist einfach eine normale Pariser Nacht.

Erst nach dem Viertelfinalsieg gegen Island vorigen Sonntag fühlte sich Paris nach Fußball an. Nun kann man es sich aussuchen: Sind die Fanzonen nicht voll geworden, weil Fußball den Franzosen nicht so wichtig ist wie ihren EM-Gästen. Oder weil die Leute hier bei aller Verdrängung und der Rückkehr in die wärmende Routine des Alltags doch Angst haben vor Bomben und Attentaten. Und das, wie die Morde von Brüssel, Orlando und Istanbul zeigen, völlig zurecht.

Oder sind sie wegen des miesen Wetter zuhause geblieben?

Und dann sind da ja auch noch die Arbeitsmarktreformen der Regierung und die Streiks dagegen. Am der Bastille, am Place de la République: Ständig ist irgendwo Kundgebung. Streiks sind kein Ausnahmezustand, sondern ritualisierter Alltag in Frankreich. Desillusionierte sagen: eine Oberflächenkultur. Ein Ersatzklassenkampf, in dem beide Seiten – Arbeitgeber und die linken Gewerkschaften – auf nichts hinauswollen. Die Gewerkschaften sind zudem gut beschäftigt, untereinander zu konkurrieren. Es geht nicht um den Kompromiss, also den Fortschritt zum Wohl beider. Der Ex-Revolutionär Daniel Cohn-Bendit sagt: Es geht um den Eindruck von Macht. Um den Schein. Frankreich ist gelähmt in seiner permanenten Scheinmobilisierung. Rechts wie links bewahren dieses Prinzip. Es macht das Land als Ganzes extrem konservativ. Das kann bisher keiner ändern, schon gar nicht der Fußball.

Wenn man sich am Ende der EM-Wochen bei allem komplexen Nebeneinander doch eine persönliche Zuspitzung rauspressen will, dann besteht sie darin, dass die These des Gesellschaftsphilosophen Klaus Theweleit nicht mehr passt, die die Folie von der WM 2006 in Deutschland war. Das Denken, sagte er, überwintere angesichts fehlender politischer Projekte im Fußball. Theweleit war damals selbst voll auf dem Fußballtrip.

Das ist eine bessere Wahrheit als die Mainstream-Illusion, der Deutsche habe sich mit seiner WM als gesellschaftspolitisch emanzipierter Bürger neu erfunden. Was für ein Quatsch.

Viele Deutsche hatten einen Party-Sommer erlebt und eine angenehme Leichtigkeit gespürt, die ihnen die Leitartikler im Land und weltweit nicht zugetraut hatten. Wegen Auschwitz und überhaupt. Das war aber nicht der Punkt. Es ging gerade um das Ignorieren des Politischen und der neuen Verantwortungen angesichts der aufziehenden transnationalen Katastrophen. Es ging um das Nehmen, um Party. Diesen Sommer war ihnen offenbar auch nicht mehr ganz so sehr danach.

Damals war Rot-Grün gerade von denen verraten worden, die es gewählt hatten, um sich dann wieder schön mit sich selbst zu beschäftigen. Sie hatten Gründe, sicher. Auch gute. Aber letztlich hatten sie vor allem keinen Bock, sich selbst einzubringen und sich ernsthaft mit globaler Zukunft zu beschäftigen. Die Wahl von RotGrün war eine Konsumhandlung, die wegen anscheinend fehlender Lieferung in Frust und Lethargie mündete, obwohl man gar nicht wusste, was man eigentlich hätte bestellen wollen, außer identitätspolitischem Fortschritt und einem guten Gefühl. Wie der Doors-Sänger Morrison wollten wir ewig gegen Vater, Mutter, Kohl und Heino rebellieren, um eine neue emanzipierte Art des Lebens einzuklagen. Dabei starben längst Menschen, die auf diese neue Art gelebt hatten, weil andere das nicht mehr aushalten.

Diese kulturlinke Reduzierung des Politischen und dazu der Abstieg von Rock'n'Roll und Literatur als Grundlagen gemeinsamen Sprechens hat unter anderem dazu geführt, dass immer mehr Menschen ihr Leben, ihre Fragen und vor allem auch ihre Sehnsüchte über den Fußball verhandelt haben. Und nun sitze ich im Stade de France von Saint-Denis, Pressetribüne, super Platz, gerade ist wieder ein Spiel zu ende. Die einen lachen, die anderen weinen. Und ich bin auch aufgewühlt, finde guten Fußball nach wie vor großartig, bewegend und inspirierend. Es ist ein Anfang, dass wir ein Europa des Fußballs haben, das auf jeden Fall.

Aber genau so wenig wie Jim Morrison, genau so wenig, wie alle, die ewig in der Welt von 1968ff leben wollen, so wenig kann der Fußball Antworten auf die Fragen unserer Zeit geben.

Es ist Zeit, die Zuschauertribüne zu verlassen. Solange draußen noch Licht brennt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen