: Drei Schritte Freiheit
AuslaufGäbe es ihn nicht, müsste man die Wohnung viel häufiger verlassen, um keinen Knall zu kriegen
Balkon, das ist Freiheit – auch wenn es nur ein paar Quadratmeter sind. Früher war das anders. Ich bin in einem großen Haus aufgewachsen, mit einem weitläufigen Garten und einer Terrasse, da war der Balkon piepegal. Wir verfügten sogar über zwei, ich kann mich aber nicht erinnern, sie jemals betreten zu haben. Wie bei anderen Dingen steigt das Verlangen wohl proportional zum Mangel.
Heute kann ich sagen: Hätte ich keinen Balkon, wäre meine Wohnung nicht komplett. Sobald es langsam wärmer wird, würde ich mich eingesperrt fühlen. Der Balkon hilft mir sogar, viel weniger das Haus verlassen, ohne einen Knall zu bekommen. Und er hilft mir, andere Lebewesen anzulocken: Ich kann zum Beispiel Freunde und Freundinnen, die keinen haben, einladen, um zusammen auf ihm zu essen. Das Balkon-Argument zieht.
Damit das so ist, fangen meine Nachbarn und ich so früh wie möglich im Jahr an, den Balkon auszustaffieren. In diesem Jahr war ich spät dran. Meine Zimmerpflanzen, die ich mit Ach und Krach in meiner Wohnung durch den Winter brachte, habe ich im April rausgestellt. Beim Einkauf überzeugten mich Dahlienknollen. Später fiel auf, dass wohl der Geschmack meiner Nachbarn auf mich abgefärbt haben muss.
Dann war da noch dieser Schmetterlingstreffpunkt, eine Mischung anziehender Pflänzchen, die ich Anfang Mai einpflanzte und seither regelmäßig hege und pflege. Als nach einigen Tagen die ersten Keime sprießten, ging mir fast das Herz auf. Sehnsüchtig warte ich nun auf die ersten Knospen.
Neulich beim Kontrollgang stellte ich mit Schrecken fest, dass meine Sprösslinge nicht nur Schmetterling anziehen. Ein halber Blumenkasten voller Setzlinge und Erde lagen wild über das Mobiliar verteilt. Wer macht sowas, wer kommt hier rauf? Es muss ein mieser Vogel gewesen sein. Ich brauche eine Vogelscheuche! Am nächsten Tag verwarf ich die Idee. Vielleicht versuche ich noch einmal, mich damit anzufreunden, dass sich auch andere Lebewesen die Freiheit nehmen.
Lena Kaiser, 34, taz-Redakteurin, wartet auf dem Balkon auf Knopsen und Schmetterlinge.
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