Im Tal der Könige

Seitenwechsel Vom gefluteten Klo unter dem Potsdamer Platz zur Bar vom Palast der Republik: Das WMF war der spektakulärste Club der Neunziger. Eine Ortsbegehung

Fred Rubin installierte die alte Bowling-Bar des Palasts der Republik im dritten WMF, Burgstraße Foto: Heike Ollertz

von Ulrich Gutmair

Der Verkehr dröhnt, der Regen rauscht, Gerriet Schultz zieht sich die Kapuze über den Kopf. Wir stehen vor einer der Neubauten, die den Leipziger vom Potsdamer Platz trennen. Wir versuchen uns vorzustellen, wie es hier aussah, als hier nur das Haus Huth und die Reste des Hotels Esplanade standen. Der Rest war Niemandsland, ein breiter Streifen zwischen der äußeren und der inneren Mauer der Grenzanlagen. Gerriet Schultz hat das hier entstandene „Potemkinsche Dorf“, wie er es nennt, wohl schon öfter mit seiner Erinnerungslandschaft abgeglichen. Er deutet auf die Grünfläche des Leipziger Platzes und sagt: „Irgendwo hinter den beiden Bäumen muss der Eingang gewesen sein.“

Gerriet Schultz spielte in einer Band namens Fleischmann, als die Mauer fiel, was sich gut traf, weil man einen neuen Proberaum suchte. Man fand ihn in der einst repräsentativen Filiale der Württembergischen Metallwarenfabrik an der Leipziger Straße. Im obersten Geschoss hatten bis kurz nach der Wende Betriebskampfgruppen aus dem Viertel einen Stützpunkt gehabt. Die Etage wurde kurzerhand besetzt und als Party- und Probenraum genutzt, bis die Botschaft einzog, ein Kollektiv aus Künstlern und Filmemachern, das sich gleich den Problemen der Stadtentwicklung in der Friedrichstadt widmete.

Der Probenraum wanderte in den Keller und verwandelte sich bald in einen Club mit den, heute würde man sagen: Resident DJs Juri und Bym und noch ein paar anderen. HipHop und Ragga wird gespielt, Studenten treffen auf Gastarbeiterkinder, die den neuen Gangsta-Rap manchmal zu ernst nehmen, dann gibt es Ärger. Die WMF-Leute nehmen Kontakt auf mit den Familien in Kreuzberg und sprechen die wilden jungen Männer, es ist die Zeit der 36 Boys, direkt an. „Wir haben ihnen dann gesagt, kommt nur zu dritt und nicht gleich zu zehnt, dann lassen wir euch auch rein“, erinnert sich Gerriet. Zugleich muss man sich gegen die Versuche von Hells Angels und anderen Gangs wehren, über die Türsteher Zugriff auf das Geschäft zu bekommen.

Angst vor der Anarchie

Die Berliner Presse hat nicht nur deswegen die vielen neuen, halb legalen Clubs im Osten der Stadt als schlagzeilenträchtiges Sujet entdeckt. In das unkontrollierte Nachtleben im ansonsten eher menschenleeren Stadtzentrum – hier fürchtete schon die DDR-Regierung konterrevolutionäre Umtriebe und entmietete großflächig – lässt sich die Angst vor der Anarchie nach Ende des Kalten Kriegs projizieren, die beide Bevölkerungen umtreibt: In den Clubs werden Drogen konsumiert, und wer weiß, was da noch so alles passiert! Dabei ist die Clubkultur noch harmlos; bis sieben Uhr im Club feiern und den Vormittag in der Afterhour verbimmelt zu verbummeln wird schon als olympische Höchstleistung gefeiert.

Um den künstlerischen und politischen Projekten der Botschaft nicht zu schaden, zieht das WMF nach einem Winter und einem Sommer aus. Nun beginnt eine Wanderung quer durch die Stadt, von einem Ort zum anderen, bis der Club gut zwanzig Jahre später endgültig schließen muss. Der Auszug hat aber auch sein Gutes. Der spektakulärste Ort, den das WMF je besetzt, wird in einer ehemaligen Toilettenanlage des S-Bahnhofs Potsdamer Platz gefunden.

Gerriet und seine Freunde entdecken eine Treppe, die ins Wasser führt. Die Grenztruppen hatten die Klos geflutet. Die WMF-Leute wissen noch nicht, was sie erwartet, drei Tage lang pumpen sie Wasser ab, dann ist ihr zukünftiger Club begehbar. „Es war wie die Öffnung des Grabs im Tal der Könige“, sagt Gerriet. Die beiden Räume sind gekachelt und bestens konserviert. Auf den Baustellen der Umgebung findet sich Material zum Bauen. In den Platten der Leipziger Straße etwa werden die Aufzüge ausgebaut, sie entsprechen nicht den DIN-Normen. Aus dem entsorgten Stahl entstehen die Bars des WMF. Über dem Eingang wird zur Tarnung ein Container platziert, in den Boden ein Loch gesägt.

Wie Mäuse im Kornfeld

Harald Fricke berichtet eine Woche nach Eröffnung in der taz von einem Besuch: „Direkt unter dem Potsdamer Platz 1 haben sich die Betreiber des WMF eingenistet wie Mäuse in einem Kornfeld. Nach Sonnenuntergang überlassen müde die Bauarbeiter den Clubbern das Gelände, die durch eine der Containerbuden treppab ins Nachtleben stürzen. Morgens um sieben treffen sie wieder aufeinander.“ Fricke wirft einen Blick durch die Reihen der Gäste und stellt fest, wie sich die Szene schon verändert hat, wir schrei­ben das Jahr 1992: „Maßgeschneiderte Anzüge, teure Kostüme. Geleaste Brillengestelle in einer klassenlosen Gesellschaft. Vielleicht schauen heute auch nur ein paar Beamte aus der Stadtplanung bei der Konkurrenz vorbei.“

Es ist ein schöner Sommer, manchmal wird vor den Containern gegrillt. Wer es nachts lange genug im Untergrund ausgehalten hat, wird damit belohnt, dass in den Morgenstunden das Dach geöffnet wird. Dann kann man beim Tanzen in den Sternenhimmel schauen. Nur diesen Sommer dauert das Vergnügen. Der Vermieter, der das Gelände 1990 von den Grenztruppen „gepachtet“ hat, will den Laden selber führen.

Mithilfe der WBM finden Schultz und seine Freunde einen neuen Ort, ganz offiziell zur Zwischennutzung, abgenommen vom Bauamt. Was Behörden und Wohnungsbaugenossenschaften damals noch abwegig schien, Gebäude für eine gewisse Zeit zur kulturellen Nutzung freizugeben, ist heute etablierte Praxis, sagt Gerriet Schultz, und ebendas sei vielleicht die wichtigste Errungenschaft der Neunziger, von der Berlin noch heute profitiere. Darüber wird er am Sonntag in einer Woche, 20 Uhr, im Polnischen Institut mit Bassdee, Tobias Rapp und Bartek Chaciński sprechen.

Denn das dritte WMF entstand 1994 in einer ehemaligen Fabrik in der Burgstraße, in der Winkelemente hergestellt worden waren. Stünde der Komplex noch, wäre der Club heute direkter Nachbar des Polnischen Instituts. Jetzt residiert dort der DGB.