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Geteilte Erinnerung als gesellschaftliche Utopie

Erinnerungskultur Aleida Assmann und Ulle Schauws diskutierten in den Räumen der Heinrich-Böll-Stiftung über die dringliche Frage, wie sich die vielfältigen Geschichtsnarrative in einer Einwanderungsgesellschaft vereinen lassen können

Die wahre Geschichte wird sich ihren Weg bahnen, allen Bemühungenum Verdrängung zum Trotz

Sie ist unabdingbarer Bestandteil unseres Lebens, prägt ganz maßgeblich unsere Gegenwart und hat auch Einfluss auf die Zukunft – die Erinnerung. Wir können versuchen, uns selbst zu belügen, indem wir unsere Geschichte verleugnen oder verdrängen, aber eins ist dann sicher: Die wahre Geschichte wird sich ihren Weg bahnen, allen Bemühungen zum Trotz.

Dass dieses Prinzip über die individuelle Sphäre hinaus auch auf kollektiver Ebene funk­tioniert, hat die Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann in diversen Publikationen herausgearbeitet, die sich mit der Frage nach dem „kulturellen Gedächtnis“ befassen. In den Räumen der Heinrich-Böll-Stiftung diskutierte sie mit der kulturpolitischen Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen, Ulle Schauws. Das Thema des Gesprächs war aktueller denn je: Es ging um die Notwendigkeit für die deutsche Erinnerungskultur, sich neuen Per­spektiven zu öffnen hinsichtlich der Frage, wie Erfahrungen der Geflüchteten, die deutsche Kolonialgeschichte sowie auch die Gastarbeitergeschichte Teile des deutschen Erinnerungsnarrativs werden können. Ziel dieses langwierigen, eine permanente Neudefinition erfordernden Arbeitsprozesses soll sein, die Basis für eine gemeinsame Erinnerungskultur zu schaffen – damit eben keine Verleugnung und/oder Verdrängung von Geschichte stattfinden muss.

Die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/die Grünen hat sich mit diesem Thema ausführlich in einem Positionspapier mit dem Titel „Geschichten der Vielfalt – Erinnerungskultur in der Einwanderungsgesellschaft“ befasst. Bei der Vorstellung dieses Papiers bekräftigte Schauws die Rolle der Politik in diesem Prozess: Das Austragen von Konflikten brauche zunächst einmal eine gemeinsame Basis der Grundanschauung; die Festlegung dieser Normen sei Aufgabe der Politik.

Von dieser Basis ausgehend, kommen weitere Akteure ins Spiel. Hierzu verwies Assmann zunächst auf die Wissenschaft und die Kunst und die diesen beiden gesellschaftlichen Sphären innewohnende Autonomie. Außerdem betonte sie die he­raus­ragende Rolle der Medien als „Stichwortgeber für Debatten“ und schließlich die Relevanz, die dem informellen Engagement der Individuen zukomme. Als Beispiel nannte sie kleinere Initiativen, die sich auf diversen Ebenen für einen interkulturellen Austausch einsetzen und somit eine „neue“ Geschichtsschreibung vorantreiben würden. An diesem Punkt gab es einige Ergänzungen seitens des Publikums.

Was die deutsche Kolonialgeschichte betrifft, verwies Assmann auf die dringende Notwendigkeit, auch die Geschichte der Kolonisierten einzubeziehen. Es müsse jedoch darauf geachtet werden, dass keine „Opferkonkurrenz“ entstehe.

Wie wichtig eine Auseinandersetzung mit dem Thema der kollektiven Erinnerungskultur ist, beweist nicht zuletzt die aktuelle Debatte über die Bundestagsresolution zum Völkermord an den Armeniern – darüber waren sich sowohl die beiden Gäste auf dem Podium als auch die ZuhörerInnen einig. Assmann verwies auf die lange Dauer der Verzögerung von deutscher Seite, die Aufarbeitung dieses Teils der türkischen Geschichte voranzutreiben, und eine Teilnehmerin merkte an, es sei ein „nettes Paradox“, dass sich ausgerechnet zu einer Zeit, in der so viele Geflüchtete nach Deutschland kämen, dieses Land erneut mit seiner Verantwortung bei der Klärung eines Völkermordes auseinandersetzen müsse.

Die Schaffung einer gemeinsamen Erinnerungskultur ist essenziell – vor allem hinsichtlich der Frage, wie trotz multi­per­spektivistischer Erfahrungshintergründe von jüngeren und eingewanderten Menschen die deutsche Vergangenheitsbewältigung hinsichtlich des Nationalsozialismus bewahrt werden kann – eine Frage, die an diesem Abend nur sehr indirekt berührt wurde. Noch handelt es sich bei dieser „neuen“ Form kollektiver Erinnerung um eine Utopie – allerdings um eine durchaus schon in näherer Zukunft realisierbare. Annika Glunz

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