Stadtgespräch: Wasser bis zum Hals
Die Streikwelle ist nur eines von vielen Problemen in Frankreich vor Beginn der Fußball-EM
Rudolf Balmer aus Paris
Benzinmangel, Angst vor Stromunterbrechungen, Verkehrsbehinderungen wegen Streiks gegen die Arbeitsmarktreform, keine Aussicht auf eine politische Einigung und eine wirtschaftliche Besserung, das würde den meisten in Frankreich schon als Grund zum Ärger reichen. Jetzt wird wegen des Hochwassers alles noch komplizierter. Dem unpopulären Präsidenten François Hollande und seiner Regierung steht das Wasser ohnehin bis zum Hals. Und ein Ausweg aus dem Konflikt um die Arbeitsmarktreform zeichnet sich nicht ab. Jeden Tag sagen Hollande oder sein Premierminister Manuel Valls, sie hätten nicht vor, in diesem Seilziehen nachzugeben und auf diese Liberalisierung des Arbeitsrechts zu verzichten. In ein paar Tagen soll die Fußball-EM beginnen. Frankreich hat Grund, sich Sorgen um sein Image zu machen.
Ein Ende des sozialen Konflikts zeichnet sich nicht ab. Eine Kommission des Senats, der sich demnächst auch noch mit der Vorlage befassen muss, hat eine Einigung mit den Gewerkschaften noch erschwert, indem sie in einem Zusatz kurzerhand die 35-Stunden-Woche abschaffen und durch eine gesetzliche Höchstarbeitszeit von 39 Stunden ersetzen will. Der Arbeitgebervorsitzende Pierre Gattaz hat seinerseits noch Öl ins Feuer gegossen, indem er die CGT als „stalinistische Diktatur“ und ihr Vorgehen mit Arbeitsniederlegungen und Blockaden als „terroristisch“ verunglimpft.
Doch das sind für die meisten Menschen in Paris heute Nebensächlichkeiten oder „Überbau“-Probleme der Politiker. Seit Dienstag streikt in Frankreich ein Teil des Bahnpersonals. Während mehr als die Hälfte der TGV-Schnellzüge fahrplanmäßig verkehren, fallen im Nahverkehr zwischen dem Zentrum von Paris und den Vororten sehr viele Züge aus. Weil seit Donnerstag die CGT auch noch bei den städtischen Verkehrsbetrieben von Paris zu einem ebenfalls unbefristeten Ausstand aufruft, verkehren mehrere Buslinien gar nicht.
Die Metro fährt fast wie üblich. Dagegen ist die wichtige Linie C der RER-Schnellbahn völlig unterbrochen. Schuld daran sind aber nicht die Streikenden, sondern das Hochwasser. Die Zeitung Le Parisien protestierte im Namen der empörten Leser auf der Titelseite: „Il ne manquait que ça“ (Das hatte uns gerade noch gefehlt). Denn Dauerregen und Überschwemmungen verbessern die allgemeine Stimmung nicht.
Zunächst aber ist Solidarität und Improvisation angesagt, wenn wie jetzt die Alltagsroutine aus den Fugen gerät. Erstaunlich, wie gelassen die meisten Bewohner der Region Paris auf die Störungen im Bahnverkehr reagieren. Schlimmstenfalls opfern sie sogar einen freien Tag. Wer einen kürzeren Weg vor sich hat, holt ausnahmsweise wieder das Fahrrad oder die Rollschuhe aus dem Keller. Andere organisieren Fahrgemeinschaften im Pkw mit Kollegen oder Bekannten.
Wer keine Alternative hat, muss vor allem in den frühen Morgenstunden und erneut am Abend mit zum Bersten vollen Waggons rechnen. Und das Einsteigen wird zu einer sportlichen Herausforderung. Wenn per Lautsprecher eine Verbindung angekündigt wird, gehen die Leute in Startposition; wenn die Türen aufgehen, wird gestoßen und gedrängelt. Wer sich nicht durchsetzt, muss auf den nächsten Zug warten. Und wer weiß, wann der kommt.
Diese außergewöhnlichen Komplikationen haben aber auch ihr Gutes. Es ist erstaunlich, wie in der Metro, wo sonst alle vor sich hin schweigen, aus Anlass eines Streiks plötzlich Konversationen aufkommen. Dabei geht es um das Wetter, also die Überschwemmungen und die bedenklich ansteigende Seine in Paris, aber auch um die Rolle der Regierung und der CGT-Gewerkschaft im Konflikt wegen der Arbeitsmarktreform.
Am meisten hämische Kritik bekommt François Hollande ab, weil in Frankreich der Präsident ohnehin an allem schuld ist. Seine Popularität bei den Umfragen sinkt in Richtung Nullpunkt; der letzte gemessene Wert liegt bei 5 Prozent. Die meisten Leute sind grundsätzlich gegen die Reform. Und gegen die Regierung. Und gegen das Wetter.
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