Wandertheater in Oldenburg: Pilgerreise in die Zeit nach dem Burn-out

Die theatrale Wanderung „Gehenlassen“ wagt einen Blick die Zukunft nach der Arbeitswelt. Dabei erscheint vollkommen absurd, was wir so wegarbeiten

Die Zukunft nach der klassischen Arbeitswelt, inszeniert vom Kollektiv „Fräulein Wunder AG“. Foto: Stephan Walz/Staatstheater Oldenburg

OLDENBURG taz | In Wanderschuhen, mit Regenjacken und Rucksäcken warten 20 Menschen vor dem Staatstheater Oldenburg. Sie sehen aus wie eine Reisegruppe an ihrem Treffpunkt. Und irgendwie sind sie das auch, obwohl sie für das hier ordnungsgemäß Eintrittskarten an der Theaterkasse gekauft haben. „Gehenlassen. Die Wanderung in ein Leben nach der Arbeit“ heißt die neueste Inszenierung des Theaterkollektivs „Fräulein Wunder AG“ aus Hannover für das Staatstheater. Statt hinein und auf die Ränge geht es hinaus auf eine Wanderung,zwölf Kilometer durch Oldenburg, fünf Stunden lang. Wohin genau weiß keiner der – Zuschauer? Nein, Wanderer.

Alles beginnt wie ein Ausflug: Ein Mann in Warnweste verteilt Lunchpakete, gibt Verhaltenshinweise. „Heute geht es irgendwohin, wo wir nichts kennen“, sagt jemand. Dann ziehen drei Frauen in futuristisch-poppigen Overalls einen Wagen um die Ecke, auf den eine ausgemusterte Büroeinrichtung gestapelt ist. Sie sind die Reiseleiterinnen aus der Zukunft, die mit der Gruppe in das Jahr 2064 wandert. In eine „Zukunft nach der Arbeit“, wie sie ankündigen, um auf das „System der 2010er Jahre“ zurückzublicken. Sie wollen an diese „Zeit der Selbstausbeutung“ erinnern, sprechen von „stillem Gedenken“ daran.

Begleitet von diesen großen Worten geht es schweigend auf die ersten Meter der Zeitreise. Mitten durch die Fußgängerzone und an starrenden Menschen vorbei zieht die Karawane. Man fühlt sich tatsächlich aus der Zeit genommen. Die sonst gewohnte Umgebung wirkt dadurch surreal.

20 Minuten später, in der Zukunft angekommen, erklären die Reiseleiterinnen die Stadt zum „Freilichtmuseum der alten Arbeitswelt“, durch das nun „ExpertInnen des Alltags“ führen. Straßenzüge und Läden werden zu Ausstellungsstücken aus einer Zeit, in der die Balance zwischen Leben und Arbeit fehlte. So geht es weiter durch die Stadt. Industriegebäude sind Sinnbild für veraltete Strukturen und Ausbeutung, eine Bankzentrale wird zum Mahnmal für das gescheiterte Wirtschaftssystem.

„Zeitzeugen“ erzählen an verschiedenen Orten von ihrem „damaligen“ Arbeitsleben und von den Brüchen in ihrer Karriere. Vom Scheitern an starren Arbeitsroutinen ist die Rede. Vom Zusammenprall persönlicher Werte und der Realität des Arbeitsalltags. Von Wut, Erschöpfung und Burn-out. Vom „Fall aus dem Zug der Arbeit“, gefolgt von Identitätsverlust. Die Zeitzeugen erzählen auf ehrliche Weise davon. Keine Spur von Scheu oder Scham, weil das Scheitern am Arbeitssystem „damals“ noch einen Makel dargestellt hatte.

Auch die Wanderer scheinen diesen Gedanken nicht zu haben. Mal im Gehen, mal versammelt in einer Seitengasse oder auf einem Grünstreifen, hören sie jedem still und respektvoll zu. Und irgendwie auch bedrückt, weil sie die Erschöpfung, von der oft die Rede ist, selbst spüren. Körperlich, weil sich die gelaufenen Kilometer bemerkbar machen – einige verarzten Blasen an ihren Füßen. Und geistig, weil die Geschichten belasten. Vielleicht, weil sie wahr sind.

Die Zeitzeugen sind Menschen aus Oldenburg, die erlebt haben, was sie erzählen. Melanie Hinz und Verena Lobert, zwei der Reiseleiterinnen und gleichzeitig verantwortlich für das Konzept, haben sie vorab gecastet und mit ihnen geprobt. Distanz zu halten ist also schwierig. Das hier ist nicht „nur“ ein Theaterstück, sondern die Konfrontation mit Auszügen aus gelebter, wahrer Arbeitswelt. Sie machen deutlich: Die Grenzen des Wachstums und der menschlichen Leistungsfähigkeit waren erreicht. Und in Gedanken ersetzt man das „war“ durch ein „ist“.

Buchstäblich Schritt für Schritt ändert sich der Blick auf das Arbeitssystem. Das eigene Verhalten und Teile des Systems wirken bald absurd bis mörderisch

Reiseleiterinnen wie ExpertInnen lassen immer wieder durchblicken, dass im Jahr 2064 andere Verhältnisse herrschen. Selbstoptimierung, 60 Stunden-Wochen und der Burn-out als „soziale Epidemie“ liegen zurück, erfahren die Wanderer. Aus der Zukunft heraus betrachtet ändert sich buchstäblich Schritt für Schritt der Blick der Teilnehmer auf das Arbeitssystem. Das eigene Verhalten und Teile des Systems wirken bald absurd bis mörderisch.

Deswegen haben Hinz und Lobert die Wanderung als Form für die Inszenierung gewählt, sagen sie. Wandern könne Erkenntnis stiften und ein Training in Loslassen sein. Gehen als Denkhilfe. Sie verweisen auf Pilger, die seit Jahrtausenden auf Wanderschaft gehen, um mit sich selbst ins Gespräch und mit anderen in den Austausch zu kommen.

Beides entsteht tatsächlich im Laufe der Tour. Einerseits fordert das Team es ein. Mitten im Gehen wird man mit der Frage „Und wie haben Sie den damaligen Wandel erlebt?“ aus den Gedanken gerissen. Das rüttelt auf, ist aber auch ungewohnt. Andererseits fangen die Wanderer ganz von selbst an, sich gegenseitig aus ihrem Arbeitsleben zu erzählen. Das ist mal ernüchternd, mal berührend.

Bleibt noch die Frage nach dem Ausweg. Was passiert nach der Zäsur, die der Kollaps darstellt? Wie sieht die Welt nach dem Ende des alten Arbeitssystems aus? Die theatrale Pilgerreise endet auf einem Hügel mit Blick auf die Stadt. Reiseleiterinnen und ExpertInnen schauen noch einmal zurück und wagen den Ausblick auf die Utopie, die folgen könnte.

Die Fräulein Wunder AG will „Gemeinschafts- und Erfahrungsräume“ erschaffen. Das Kollektiv ist bekannt für seinen Ansatz, gesellschaftspolitische Themen in experimentelle Theaterformate zu übersetzen. Beides ist ihnen mit „Gehenlassen“ gelungen. Zwar droht die Mischung aus Pilgertour, Diskussionsforum und Theater zu lang zu werden. Der Wechsel der Formate rettet aber aus dem Konditionstief. „Gehenlassen“ bereichert um neue Perspektiven und um die Erkenntnis, dass der lineare Karriereweg eine Illusion ist.

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