: Paolo liebt Gedichte
Alltagskultur Welche Bücher lesen meine Nachbarn? Die Ausstellung „Die Magie des Lesens“ im Museum Neukölln zeigt persönliche Vorlieben – und spielt mit den Darstellungsformen
von Ralf Pauli
Die lindgrüne Wandfarbe im separierten Ausstellungsraum des Neuköllner Museums hält sich nicht an die Spielregeln. Sie stammt nicht, wie die 90 hier ausgestellten Bücher, aus Neukölln – sondern aus Charlottenburg. Museumsleiter Udo Gößwald bekam sie in nachbarschaftlicher Freundschaft geschenkt. Überhaupt spricht Gößwald – Jahrgang 1955, graue Bartstoppeln, Siegelring – gern über persönliche Verhältnisse: das der NeuköllnerInnen zu ihren Lieblingsbüchern. Des Museums zu den Leihgaben. Des Direktors zu den Wechselausstellungen über Alltagskultur. Die haben bei Gößwald Tradition.
Jedes Jahr im Mai stellt das Museum Neukölln – gegründet 1897 als Naturhistorisches Schulmuseum der Gemeinde Rixdorf – Gegenstände aus, die etwas über die BewohnerInnen des Bezirks und damit über die Gesellschaft aussagen. Vor zwei Jahren waren es Schallplatten aus Privatsammlungen, die nicht nur 50 Musik liebende Nachbarn sichtbar machten, sondern auch einen Schluss über den Musikgeschmack der Nachkriegsgeneration (Jazz, Rock, Chanson) zuließen. Ähnlich ging es vergangenes Jahr nur vordergründig darum, sieben Esstische genau so auszustellen, wie NeuköllnerInnen sie decken, wenn Besuch ins Haus steht. Die Rituale, die Speisen – sie offenbaren, wie heute Gastkultur gelebt wird. Besonders wenn man wie Gößwald auf multimediale Konzepte steht. Aber dazu später.
In diesem Jahr sind also Bücher zwischen den weißen Holzbalken und dem Charlottenburger Grün ausgestellt. Sie sollen den BesucherInnen „Die Magie des Lesens“ näherbringen – so der Titel der Ausstellung, die am vergangenen Donnerstag eröffnet wurde. 24 NeuköllnerInnen haben sich bereit erklärt, bis Ende des Jahres auf ihre Lieblingslektüre zu verzichten. Unter den LeihgeberInnen sind alle Generationen vertreten: vom 13-jährigen Schüler Karl bis zur NS-Zeitzeugin Margot.
Die KuratorInnen rund um Museumsleiter Gößwald haben bewusst Personen mit sehr unterschiedlicher Lebenserfahrung ausgewählt: Tülay stammt aus der Türkei und arbeitet als Sozialarbeiterin, Friederike ist Buchhändlerin mit einem Faible für starke Frauen, Jens ist homosexuell und ringt mit dem HI-Virus. „Wir haben darauf geachtet, möglichst viele unterschiedliche Gruppen der Gesellschaft abzubilden,“ sagt Gößwald. Entsprechend divers sind die Exponate: Belletristik-Klassiker, selbst gestaltete Kinderbücher, zweisprachige Gedichtbände, Mangas. Sie verbindet, dass sie ihren BesitzerInnen etwas bedeuten. Was, verraten die sorgfältigen Porträts, die insgesamt acht AutorInnen aus Gesprächen mit den BuchbesitzerInnen entwickelt haben. Diese „Essays“ erscheinen, zusammen mit historischen Streifzügen rund ums Thema Bücher in Neukölln, in einem Begleitband zur Ausstellung und liegen im Museum zum Lesen aus.
Für audiophile BesucherInnen stehen iPhones bereit, auf denen man die liebevoll adaptierten Hörstücke mit einem Klick starten kann. Geschichte zum Anfassen – und Anhören. Bleibt die Frage, warum ein Stadtteilmuseum persönliche Lektüre-Einblicke ausstellt? „Viele der ausgewählten Bücher haben ihre Besitzer bei der Identitätssuche begleitet“, sagt Gößwald. Beispielsweise Bölls „Ansichten eines Clowns“. Eine der mitmachenden NeuköllnerInnen wurde durch dieses Buch, das die NS-Traditionslinien in der jungen BRD verhandelt, mit der Frage der eigenen Konformität und Herkunft konfrontiert. Der Roman spielt in ihrer Geburtsstadt Bonn.
Ein anderes Beispiel ist das posthum erschienene Buch „Von der Saat der Wonne“ von Hrant Dink. Der ermordete armenische Journalist löst in der Neuköllnerin Tülay, die ihre Kindheit in der Türkei verbracht hat, Fragen aus. Eine lautet: Kann man als Türke gleichzeitig Armenier sein – wie der ermordete Dink?
Andere Bücher, sagt Gößwald, hätten die LeserInnen dazu gebracht, ihre Einstellung zum Leben zu reflektieren. Christas Lieblingsbücher etwa – unter anderem das DDR-Epos „Der Turm“– spielten alle in gesellschaftlichen Umbruchzeiten. Die Lektüre dieser Werke habe ihr gezeigt, dass man mit einer Portion Gelassenheit besser durchs Leben kommt. Die sollte man auch mitbringen, um die Ausstellung in Ruhe auf sich wirken zu lassen. Leseecken, um sich ganz der Lektüre hingeben zu können, laden dazu ein. Genau wie plakatgroße Abzüge aus den ausgestellten Werken, die auch Notizen der BesitzerInnen offenbaren. Oder die Fotoporträts von in ihre Lektüre versunkenen U-Bahn-FahrerInnen (natürlich aufgenommen in der U7).
Schade nur, dass man die Gesichter der 24 NeuköllnerInnen, denen man in der Ausstellung so nahe kommen kann, nicht zu sehen kriegt. Aber vielleicht ist das ja Teil der Magie des Lesens: sich die beschriebenen Personen selbst vorstellen zu müssen.
Bis 30. Dezember, Dienstag bis Sonntag 10 bis 18 Uhr
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