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Eigenständigkeit wiedergewonnen

Leistungssport Dorothee Vieth ist seit einem Unfall 2002 gelähmt. Dann begann sie, an Handbike-Rennen teilzunehmen. Heute trainiert die Hamburgerin für ihre dritte Paralympics-Teilnahme

Auf Weltklasse-Niveau flott unterwegs: Dorothee Vieth auf dem Handbike Foto: Oliver Kremer

von André Zuschlag

„Etwas zum Austoben“ hatte Dorothee Vieth damals gebraucht. Nach einem Unfall 2002 waren ihre Bein- und Gesäßmuskeln gelähmt. Auf Krücken und den Rollstuhl ist sie seitdem angewiesen. Die 55-Jährige dachte noch, dass sie bald „wieder ganz normal laufen kann“. Eine Freundin erzählte ihr von Adaptivbikes. Diese werden vorne am Rollstuhl befestigt. Statt der Beine, wie bei einem üblichen Fahrrad, sind es die Hände, die ein Adaptivbike antreiben. „Damit kannst du Sport machen, bis du wieder gehen kannst“, sagte ihr die Freundin. Heute, 14 Jahre später, trainiert Vieth für ihre dritte Teilnahme bei den Paralympischen Spielen.

Etwa neun Millionen Menschen in Deutschland leben mit einer Behinderung. Der größte Teil davon besitzt einen Schwerbehindertenausweis. „Der Sport“, sagt Innenminister Thomas de Maizière (CDU), „leistet für Menschen mit Behinderung den gesellschaftlichen Intergrationsbeitrag schlechthin.“ Tatsächlich ist die Anzahl der SportlerInnen groß: Rund 640.000 Mitglieder zählt der Deutsche Behindertensportverband (DBS). 48 von ihnen werden im kommenden September bei den Paralympics in Rio de Janeiro starten.

Dorothee Vieth fand in einem Sanitätsgeschäft ihr erstes, gebrauchtes Adaptivbike. „Zunächst lieh ich es mir aus, aber dann merkte ich schnell, wie praktisch es im Alltag ist“, sagt die Geigenlehrerin. Eigenständig konnte sie damit durch Hamburg zur Krankengymnastik fahren. „Die sind ja ganz einfach am Rollstuhl an- und abklemmbar“, erläutert Vieth. Und dann war da noch der sportliche Anreiz: Tennis und Fahrradfahren waren schon vor dem Unfall ihre Leidenschaften. Rollstuhl-Tennis probierte sie dann auch aus. „Leider löste sich meine Mannschaft kurz darauf auf“, erzählt Vieth.

Aber sie hatte ja noch das Adaptivbike. 2004 gab es bei einem Marathon in Hannover auch Startplätze für HandbikerInnen. Sie gewann auf Anhieb. „Ich war total angefixt und suchte sofort nach dem nächsten Rennen“, sagt die Hamburgerin.

Bei den ersten Rennen fuhr sie noch mit dem auf den Alltag ausgerichteten Adaptivbike. Rund 35 Kilo wiegt es, ein professionelles Rennfahrrad hingegen weniger als 20 Kilo. „Aber viel langsamer als die Racebiker war ich auch nicht“, erinnert sich Vieth. 2005 lieh sie sich ein Racebike und eilte damit von Sieg zu Sieg.

Der Aufstieg Vieths in den Leistungssport ging schnell. Sie habe sich, sagt sie, „aus reiner Neugier beim DBS nach der Radsport-Nationalmannschaft informiert und nachgefragt, wie man da denn reinkommt“. Zwei Monate später, frühmorgens kurz vor Weihnachten 2005, rief der Bundestrainer an. Ob sie übermorgen nach Freiburg zur Leistungsdiagnostik kommen könne? „Das passte mir zwar zeitlich gar nicht, aber die Gelegenheit musste ich nutzen“, sagt Vieth.

Sieben Podiumsplätze bei den Handbike-Weltmeisterschaften erklomm die Hamburgerin seither. Bei den Paralympics 2008 in Peking gewann sie den dritten Platz. Einen weiteren dritten Platz sowie eine Silbermedaille brachte sie 2012 aus London mit. Über eine Teilnahme bei den kommenden Spielen in Rio musste sie trotz der Erfolge lange nachdenken. „Ich bin ja kein Küken mehr“, erklärt die 55-Jährige. Wenn sie schon teilnehme, wolle sie schließlich „auch oben mitmischen“.

Dafür musste sie die rund zweijährige Vorbereitungszeit mit ihrem Beruf als Geigenlehrerin in Einklang bringen. 20 Stunden die Woche trainiert sie nun für einen weiteren Erfolg bei den Paralympics. Finanziell stützt der DBS die meisten seiner SpitzensportlerInnen durch Ausfallzahlungen an die Arbeitgeber. Vieth wird von der Deutschen Sporthilfe gefördert. Denn: Komplett vom Sport können die wenigsten DBS-LeistungssportlerInnen leben.

„Jede Minute des Trainings ist durchgeplant“, sagt ihr Trainer Sebastian Zeller. An der Sporthochschule in Köln werden Vieths Trainingsleistungen im Labor untersucht. Die notwendigen Trainingsschwerpunkte werden somit für das „spezifische Ziel, also die Paralympics in Rio, im Labor erkannt“, erläutert Zeller.

Der Blick richtet sich „weniger auf Defizite, als auf Potentiale“, sagt er in Hinblick auf körperliche Behinderungen. Wie im gesamten Leistungssport geht es Zeller, dem Diplom-Sportwissenschaftler, um die Frage, wie Höchstleistungen erreicht werden können.

Auch die Arbeit der Sportmedizin ist im Leistungssport die gleiche. Einen Unterschied zu den LeistungssportlerInnen ohne Behinderung sieht Klaus-Michael Braumann, Professor am Hamburger Institut für Sport- und Bewegungsmedizin, nicht: „Von der Behinderung abgesehen sind das gesunde Menschen.“

Der einzige medizinische Unterschied zu LeistungssportlerInnen ohne Behinderung ist die notwendige Aufteilung in Schadensklassen. Je nach Art und Schwere des Handicaps sollen die SportlerInnen mit ähnlichen Voraussetzungen gegeneinander antreten.

Vorwürfe über eine „bessere Behinderung werden durch die medizinische Einteilung verhindert“, sagt Braumann. Tricksereien seien aber nicht ganz auszuschließen. Bei den Paralympics 2000 hatte beinahe das gesamte spanische Basketballteam eine Behinderung vorgetäuscht.

Neben dem Anreiz, den ein möglicher Erfolg setzt, ist es die Eigenständigkeit, die sich Vieth nach der Lähmung mit dem Leistungssport zurückerarbeitet hat. „Ich wundere mich, was ich im Alltag ohne Hilfe schaffe“, sagt sie. Ohne den Sport würde sie als Geigenspielerin längere Konzerte „wohl gar nicht mehr schaffen“.

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