: Genossen in der Kirchenbank
DOKUMENTATION Das wirklichkeitsfremde Handeln der SED in Leipzig hat jene gewaltige Demo erst ermöglicht, die das Ende der DDR eingeleitet hat. Tonaufnahmen belegen das
Am Abend des 9. Oktober 1989 wurde in Leipzigs Innenstadt Weltgeschichte geschrieben. Es war der Tag der Entscheidung und der Durchbruch für die Revolution in der DDR. Weit über 100.000 Menschen beteiligten sich an der Demonstration gegen das SED-Regime. Aus zahlreichen Archiven, unter anderem von TV- und Radio-Sendern und Privatmitschnitten, konnten die Bürgerrechtler Achim Beier und Uwe Schwabe 93 Ansprachen zwischen Oktober 1989 bis März 1990 ausfindig machen und für eine Veröffentlichung aufbereiten. Erstmalig werden auf einer CD, die dem nun erschienenen Buch beiliegt, historisch bedeutsame Tonaufnahmen öffentlich gemacht. Vor allem die Einweisung der SED-Genossen, die um 15 Uhr die Bankreihen in der Nikolaikirche zum Friedensgebet „besetzen“ sollten, damit sogenannte „negative Kräfte“ keinen Platz dort finden, haben es in sich. Ein mutiger Tontechniker schnitt die Einweisung am Vormittag des 9. Oktober 1989 im Besprechungssaal des Rathauses heimlich mit. Da ist ein Genosse Erwin zu hören, der im scharfen Feldwebelton untergebene Genossinnen und Genossen anweist, bei der Besetzung der Nikolaikirche keine Parteiabzeichen und keine Parteidokumente mit sich zu führen. Ein Genosse fragt dann ängstlich, wie er sich verhalten soll, wenn er von den DDR-Sicherheitsorganen nach dem Friedensgebet vor der Kirche angehalten wird. Genosse Erwin antwortet knapp: „Genossen, in Gruppen zügig die Kirche in Richtung Ritterstraße verlassen.“
Ein SED-Dokument vom 5. Oktober 1989 belegt die groß angelegte Planung: „Bei diesem Einsatz ist zu sichern, dass mit Öffnung der Nikolaikirche zum ‚Gebet‘ sofort 2.000 Parteiaktivisten im Innenraum Platz nehmen und der Zugang negativer Kräfte weitgehend eingeschränkt wird.“ Im Nachhinein bleibt festzustellen: Die Besetzung der Nikolaikirche durch die SED während des Friedensgebets am 9. Oktober 1989 war ein Eigentor. Die ausgesperrten Menschen protestierten auf dem Nikolaikirchhof. Es entwickelte sich eine solche große Eigendynamik, dass die Menge im Anschluss auf den großen Innenstadtring zog und sich Tausende dem Demonstrationszug anschlossen.
Uwe Schwabe erklärt dazu heute: „Mir wurde noch mal klar, wie weltfremd diese SED-Funktionäre waren, die einfach nicht wahrhaben wollten, wie die Situation im Herbst 1989 im Land war.“ Thomas Purschke
Achim Beier, Uwe Schwabe (Hg.): „ ‚Wir haben nur die Straße’– Die Reden auf den Leipziger Montagsdemonstrationen 1989/90. Eine Dokumentation“. Mitteldeutscher Verlag, Halle 2016, 252 S., 19,95 Euro
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