: Nächtlicher Eingriff in den Schutzraum
Asyl Mitten in der Nacht ist ein Jugendlicher aus betreuter Wohngruppe abgeschoben worden
Allein im Januar und Februar 2016 sind laut Innenverwaltung bereits knapp 350 Menschen aus Berlin abgeschoben worden. Für März liegen die Zahlen noch nicht vor. Zum Vergleich: Im Jahr 2015 gab es insgesamt rund 800 Abschiebungen aus Berlin.
Um abgeschoben zu werden, braucht ein Flüchtling gültige Papiere. Wenn diese nicht vorliegen, kann die zuständige Botschaft ein sogenanntes Laissez-passer als Pass-Ersatz ausstellen. (usch)
Die Polizei kam in den frühen Morgenstunden. Am 9. März um 3.40 Uhr drangen nach Auskunft des Jugendhilfeträgers WeGe ins Leben e. V. mehrere Polizeibeamte in eine betreute Wohngruppe in Mariendorf ein. Dort lebten der 18-jährige Surakata C. aus Gambia und drei weitere geflüchtete Jugendliche. Die Polizisten nahmen C. fest und ließen ihm nur noch Zeit, seine Sachen zu packen. Seine Betreuer konnte er nur kurz am Telefon sprechen.
Um 7 Uhr, nur wenige Stunden später, setzte die Polizei C. in Tegel in ein Flugzeug, das ihn über Brüssel nach Gambia brachte. Weder C. noch seine Betreuer seien vorher über eine drohende Abschiebung informiert worden. Auch wie die Polizei in die Wohnung gelangt ist, ist unklar. Die Mitbewohner sagen, dass sie die Tür nicht geöffnet haben. Zu den Umständen läuft eine Anfrage an das Abgeordnetenhaus.
Ohne Wissen der Betreuer
„Der Vorfall hat uns völlig überrascht – und entsetzt“, sagt Einrichtungsleiter Martin Backhaus. „Der Jugendliche war seit eineinhalb Jahren bei uns, wir haben ihn im Rahmen der Hilfen für junge Volljährige sozialpädagogisch betreut.“ C. habe an einem Deutschkurs und Weiterbildungsprojekten teilgenommen. „Mein Kollege ist an dem Morgen noch zum Flughafen gefahren, die Polizei hat aber keinen Kontakt mehr zugelassen“, berichtet er. Inzwischen sei C. bei Verwandten in Gambia untergekommen. Kontakt hielten sie nun über soziale Medien.
Gemeinsam mit dem Flüchtlingsrat und dem Bundesfachverband minderjährige unbegleitete Flüchtlinge (BUMF) kritisiert der Träger das Vorgehen der Ausländerbehörde scharf. Es sei das erste Mal, dass ein Jugendlicher direkt aus einer Hilfeeinrichtung abgeschoben werde. In einem Brief an Jugendsenatorin Sandra Scheeres (SPD) fordert der Träger, Abschiebungen aus der Jugendhilfe einzustellen. „Wir können und wollen nicht akzeptieren, dass unsere Arbeit durch Ausländerbehörde und Polizei komplett torpediert wird“, heißt es dort.
Mehr Abschiebungen
Die Senatsverwaltung für Inneres äußert sich aus Gründen des Datenschutzes nicht zu dem Fall konkret. Die Behörde habe sich vorgenommen, die Zahl der Abschiebungen deutlich zu steigern, sagte ein Sprecher. Die Abschiebungszeiten richteten sich nach verfügbaren Flügen. Eine Einbindung in die Jugendhilfe stelle grundsätzlich kein Abschiebehindernis dar. Wenn jemand nicht freiwillig ausreise, sei es die Pflicht der Behörde, die Ausreise notfalls zwangsweise durchzusetzen. Der Termin dafür müsse vorher nicht angekündigt werden.
Dies sieht Ulrike Schwarz vom BUMF anders. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz stehe seit 2015 gleichberechtigt neben dem Ordnungsgesetz. „Die Ausländerbehörde muss daher das Jugendhilferecht mitdenken. Dazu gehört mindestens, dass sie das Jugendamt informiert, wenn sie plant, Jugendliche in deren Obhut abzuschieben“, sagt sie. Die Jugendhilfe sei ein Schutzraum, in dem eine persönliche Entwicklung stattfinden solle. „Hier ist die Polizei in eine Schutzeinrichtung eingedrungen. Die Behörde umgeht damit das Jugendrecht und höhlt das Jugendhilfesystem aus.“ Damit habe sie klar eine Grenze überschritten.
„Die Abschiebepraxis der Ausländerbehörde wird immer undurchsichtiger“, erklärt auch Katharina Mühlbeyer vom Flüchtlingsrat. Geflüchtete und ehrenamtliche Helfer berichteten vermehrt von völlig überraschenden Abschiebungen im Morgengrauen. „Die Fristen werden kürzer, es bleibt kaum Zeit, um etwas für die Menschen zu erreichen.“ Gerade für Jugendliche sei eine Abschiebung besonders traumatisch.
Die drei Mitbewohner aus der Wohngruppe seien seit dem Vorfall stark verunsichert, sagt Backhaus. „Sie schlafen schlecht und sind völlig verstört. Und sie haben große Angst, dass die Polizei sie jetzt auch nachts abholt“, sagt er. „In Gesprächen versuchen wir, sie zu beruhigen. Ganz nehmen können wir ihnen die Angst nicht.“
Uta Schleiermacher
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen