: Lies, oder Hölle!
Radikal Salafisten locken Jugendliche nicht nur in den sozialen Netzwerken – sondern auch ganz konservativ, mit dem gedruckten Koran
Khaled war leichte Beute: 17 Jahre alt, gerade von der Schule geflogen und Probleme im Freundeskreis. Er brauchte einen Ausweg. Sawfi, einer seiner wenigen Freunde, kam mit seiner Einladung gerade recht: „Khaled, kommst du nachher mit zur Predigt?“
Zusammen gingen sie zu einer Wohnung in einem Vorort von Stuttgart. Ein bärtiger Mann öffnete die Tür und hieß sie willkommen. Zehn junge Männer waren schon in der Wohnung und lauschten einem älteren Prediger. Khaled kannte einige der Jugendlichen schon. Er hatte mit ihnen gemeinsam Korane verteilt – Lies-Kampagne nennen das Salafisten.
„Lies im Namen deines Herrn“ lautet ein Vers im Koran. Mit diesem Motto gründete der salafistische Prediger Ibrahim Abou-Nagie 2011 die sogenannte Lies –Stiftung. Er und seine salafistischen Anhänger, eine radikale und demokratiefeindliche Strömung im Islam, verteilen in Innenstädten Übersetzungen des Korans. Ihr Ziel ist es, jedem Haushalt einen Koran zu übergeben und somit möglichst vielen Menschen den Weg zum Islam zu zeigen.
„Von der Koranverteilung habe ich vor etwa einem Jahr auf Facebook erfahren und dann so einen Stand besucht. Die Männer dort haben mir nicht nur den Koran gegeben, sondern auch versucht, mich von ihrem radikalen Islamverständnis zu überzeugen. Das hat leider geklappt.“
Für Khaled fing ein neues Leben an: Neue Freunde, neue Umgebung und eine neue, radikale Sicht auf den Islam. Er ging zu Predigten und anderen Veranstaltungen der Salafisten. Die Koransuren wurden seine Wegweiser, das Lesen zur Flucht aus dem Alltag.
Beobachtet
Die gefährliche Seite der Lies -Kampagne ist inzwischen in vielen Kreisen bekannt. Einigen Präventionsarbeitern zufolge ist die Koranverteilung erst einmal harmlos, allerdings folge dem Lesen des heiligen Buches meist eine Radikalisierung. Mehr als die Hälfte der Jugendlichen, die aus Deutschland in den Syrien-Krieg gezogen sind, hatte sich vorher an der Lies-Kampagne beteiligt. Mittlerweile wird die Kampagne vom Verfassungsschutz beobachtet. In einem Interview mit dem Kölner Stadt-Anzeiger bezeichnet Verfassungsschutz-Sprecher Bodo W. Becker die Koranverteilung als „Propagandamittel“.
Khaled hat sich heute von der Lies-Kampagne und dem salafistischen Kreis abgewendet. „Irgendwann habe ich gemerkt, dass Salafisten den Islam falsch interpretieren. Muslimische Sozialarbeiter haben mir gezeigt, dass man seine religiösen Pflichten auch erfüllen kann, ohne radikal und verfassungswidrig aufzutreten.“ Der Austritt ist Khaled nicht leicht gefallen. Wer das salafistische Netzwerk verlässt, gilt als Abtrünniger und Verräter und wird mit Drohungen eingeschüchtert. Deshalb hat Khaled für diesen Text einen anderen Namen bekommen.
Die Lies-Kampagne und deren Anhänger findet er heute gefährlich. „Ich rate den Jugendlichen, sich von diesen Koranverteilungen fern zu halten. Es gibt auch andere Möglichkeiten, sich über die Religion zu informieren.“
Fatih Karaburun
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