: Abgucken bei Deutschland
Duale Ausbildung 400 Bildungsexperten aus 23 Ländern trafen sich in Berlin, um sich über den Lehrerberuf auszutauschen. Und nutzten den Gipfel, um mehr über das duale Ausbildungssystem zu lernen. Viele Länder, darunter China, Indien und Russland, wollen es zumindest in Teilen übernehmen. Ist das eine gute Idee? Davon sind nicht alle Experten überzeugt
Aus Berlin Hannah Weiner
Der Bildungsminister von Arkansas schlappt frierend auf und ab, die Hände in den Hosentaschen. Er und die anderen Delegierten stehen etwas verloren in einer Hofeinfahrt in Berlin-Wilhelmsruh. Eine Mitarbeiterin der schottischen Regierung schaut unter ihren rötlichen Locken müde drein, der singapurische Bildungsminister Janil Puthucheary wird von seiner Assistentin am Ellenbogen die Hauptstraße heruntergezogen. Sie hat es plötzlich eilig.
Gerade noch saßen alle gemeinsam in einem kleinen Raum der Firma Mercedöl und haben sich bei Kaffee und Mohnkuchen das duale Ausbildungssystem aus Sicht eines Heizungs-, Sanitärs- und Wartungsbetriebs erklären lassen. Das zog sich, trotz Zucker und Koffein, denn das deutsche Modell ist komplex. Jetzt warten sie erschöpft in der Kälte auf den Bus, der sie zurück ins Hotel bringt.
Die internationalen Gäste wollen das deutsche Bildungssystem kennenlernen. Anlass ihres Besuchs ist der Kongress „International Summit of the Teaching Profession“ (ISTP). Drei Tage lang schauen sie sich Schulen an, diskutieren über Lehrerausbildung oder Messindikatoren für gute Lehre. Seit 2011 wird der Kongress jährlich von der OECD, der Internationalen Dachorganisation der Bildungsgewerkschaften und einem wechselnden Gastland veranstaltet. Die Initiative geht zurück auf Barack Obama. Weil US-SchülerInnen bei der damaligen Pisa-Studie mittelmäßig abschnitten, lud der US-Präsident Bildungsminister und LehrerInnen aus aller Welt nach New York.
In diesem Jahr ist Deutschland der Gastgeber. Rund 400 Experten aus 23 Staaten aus Europa, Nordamerika und der Asien-Pazifik-Region sind nach Berlin gekommen. Aber nicht um zu beraten wie beim ersten Gipfel in den USA, sondern um zu lernen.
Am ersten Tag steht der vermeintliche „Exportschlager“ duales Ausbildungssystem im Mittelpunkt. Neben Deutschland gibt es dieses Modell, in dem Lehrlinge parallel in der Schule und in Betrieben ausgebildet werden, bisher nur in Österreich, der Schweiz, Luxemburg und Südtirol. Laut einer Studie, die die Bertelsmann-Stiftung für das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) durchgeführt hat, wird sich das wohl ändern. Nicht nur Spanien, Griechenland oder Lettland wollen demnach ihre Systeme nach dem Vorbild Deutschlands reformieren. Auch China, Indien und Russland zeigen Interesse. Grund dafür sei die niedrige Jugendarbeitslosigkeit in der Bundesrepublik, die oft mit der dualen Ausbildung erklärt werde, sagt Arnfried Gläser, Referent im Bereich Berufliche Bildung und Weiterbildung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Im Januar 2016 lag die Zahl der Jugendlichen ohne Arbeit nämlich nur bei 7,1 Prozent. In Griechenland hingegen bei 48 Prozent, in Belgien bei 22,6. Doch lohnt sich das? Gläser ist skeptisch: „Man kann das nicht einfach übernehmen.“ In vielen Ländern fehle es an Grundstruktur, etwa einer funktionierenden Kooperation zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften.
In Berlin-Lichtenberg soll das duale Modell den Delegierten aus China, Lettland, den USA, Singapur und Belgien nun am Beispiel der berufsbildenden Max-Taut-Schule vorgestellt werden. Die Gäste treffen sich in der lichtdurchfluteten Vorzeige-Aula. Häppchen stehen bereit. SchülerInnen werden hier in den Bereichen Gebäude, Umwelt und Technik ausgebildet, etwa zu Klempnern, Reinigungskräften oder Mechanikern. Drei Wochen im Betrieb, eine Woche in der Klasse.
Die Gäste haben viele Fragen an das duale System: Zahlen die Firmen die Schulen? Übernehmen sie die Schüler nach der Ausbildung? Was tut die Schule für die Lehrlinge? Und welche Aufgabe hat der Staat? Das will auch Claire Hicks wissen, die für die Regierung in Schottland arbeitet. Dort gibt es bisher kein duales System. „Ich bin hier, um mir Inspiration zu holen“, sagt sie. Schulleiter Michael Nitsche, Englischlehrer Peter Grund und Stefan Platzek vom Berliner Senat beantworten die Fragen geduldig. Sie erzählen von Problemen mit unwilligen Azubis, der Schwierigkeit, Ausbildungsplätze zu finden, von der 30-Prozent-Abbruchquote und den immerhin 60 Prozent, die nach der Ausbildung eine Anstellung finden. „Any more questions?“ Erst mal nicht. Zeit für eine Führung durch das Gebäude.
Im Maschinenraum gibt es eine kleine Feuershow für die Gäste. Azubis mit Kapuzenpullis und Kappen kichern. Sie lernen Anlagenmechanik für Sanitär- und Heizungstechnik. Von ihrer Ausbildung als deutschem Exportschlager haben sie noch nie gehört. „Können wir davon profitieren?“, fragt einer und grinst.
Die Kombination aus Ausbildungsplatz im Betrieb und Schulabschluss ist die am weitesten verbreitete Ausbildungsform in Deutschland. 2014 lernten insgesamt 1,36 Millionen Jugendliche gleichzeitig im Betrieb und in der Schule. Die beliebtesten Berufe sind Kaufleute für Büromanagement, Einzelhandelskaufleute, Verkäufer und Kraftfahrzeugmechatroniker. 90 Prozent der Azubis bestehen auch die Abschlussprüfung in der Schule.
Die berufliche Ausbildung hat jedoch Nachwuchsprobleme:Zum einen sinken seit Jahren die Zahlen der Auszubildenden und der unbesetzten Lehrstellen. 2014 wurden 518.000 Lehrlinge neu angestellt. Zehn Jahre zuvor waren es noch 571.000. In den vergangenen fünf Jahren sind die Neueinstellungszahlen in allen Berufssparten gesunken, am stärksten jedoch in der Hauswirtschaft (minus 38 Prozent) und im Handwerk (minus 15 Prozent).
Trotzdem blieben im vergangenen Jahr 41.000 Stellen unbesetzt. Die Zahl stieg im Vergleich zu den Vorjahren erneut an. Umgekehrt blieben 80.800 Bewerber ohne Stelle: Während in Bayern und Baden-Württemberg Bewerber fehlen, gibt es in anderen Bundesländern nicht genügend Ausbildungsstellen oder die Bereitschaft der Bewerber, an den Ausbildungsplatz zu ziehen.
Das Nachwuchsproblem der Betriebe hängt auch mit der zunehmenden Zahl von Studienanfängern zusammen. Zum Wintersemester 2015/2016 waren so viele Studierendewie noch nie an deutschen Hochschulen immatrikuliert: 2,8 Millionen.
Nach dem Rundgang steigen die ExpertInnen in einen Bus, der sie durch das regnerische Berlin zu Mercedöl fährt, einem der mit der Schule kooperierenden Ausbildungsbetriebe. Während draußen die hippen Bars und Cafés Friedrichshains vorbeiziehen, macht sich Tony Evers ein paar Gedanken. „Ich bin hier, um von Deutschland zu lernen“, sagt der Bildungsminister des US-Bundesstaates Arkansas mit schütterem Haar und schmaler Brille. „Teile von dem System können wir übernehmen.“ Nur ganz übertragen ließe es sich auf die USA leider nicht. Dort könnten junge Menschen nicht eigenständig Ausbildungsplätze finden, auch die Infrastruktur sei zu schlecht, genau wie das Sozialsystem und die Krankenversicherung. Ähnlich sieht das Peter Rechmann vom BIBB: „Das System als Ganzes ist kein Exportschlager.“ Im Ausland gebe es nicht die gleichen wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen. Exportieren könnte man einzelne Elemente. So geschehe das derzeit in der Slowakei, Italien und auch in Mexiko, wo seit einigen Jahren ein eigenes duales System eingeführt werde. Mit Beratung von deutschen Ministerien.
Ankunft auf dem Parkplatz vor Mercedöl. Brita Frankenstein, strenger Zopf, roter Nagellack, grüner Schal, stellt der Delegation ihren Betrieb vor. Schnell kommt sie auf Probleme mit den Auszubildenden zu sprechen: fehlende Manieren, schlechte Rechtschreibung, ungebügelte Arbeitsklamotten. „Trotzdem wollen wir alle behalten“, sagt Frankenstein. Nur dann lohnt sich die Investition. „Wie viel kostet ein Lehrling“, fragt der singapurische Bildungsminister. Das weiß keiner so genau. Hilde Lesange ist trotzdem Feuer und Flamme. In der belgischen Region Flandern, für die sie im Bildungssektor arbeitet, soll bald das duale Modell eingeführt werden. „Besonders für die schwächeren Schüler ist das System hilfreich“, sagt sie. Es ermögliche allen eine berufliche Zukunft.
Die Delegierten seien mit viel Input nach Hause gefahren, sind sich die Veranstalter am Ende des Gipfels sicher. Ob das duale System jedoch tatsächlich zum Exportschlager wird, bezweifeln nicht nur Experten. „Ich bin skeptisch“, sagt auch Schulleiter Nitsche. „Jedes Land braucht seinen eigenen Weg.“
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