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„Was ist in der Türkei schon normal?“

CHANCE? Mit der Haftentlassung von zwei Journalisten hat das Verfassungsgericht die Pressefreiheit gestärkt

Aus Istanbul Jürgen Gottschlich

Der Türkei steht ein Prozess bevor, der für den Journalismus des Landes von entscheidender Bedeutung sein wird: Zwei Journalisten der linken Tageszeitung Cumhuriyet, Chefredakteur Can Dündar und Erdem Gül, Chef des Hauptstadtbüros in Ankara, sollen wegen Spionage und Mitgliedschaft in einer Terrororganisation angeklagt werden. Drei Monate lang saßen sie bereits in Untersuchungshaft, als Ende letzter Woche das Verfassungsgericht der Türkei überraschend einer Beschwerde der beiden Journalisten stattgab und ihre Entlassung aus der U-Haft anordnete.

„Dieser Spruch des Verfassungsgerichts“, sagte Can Dündar der taz, „ist wegweisend auch für die anderen 30 Journalisten, die im Moment in der Türkei im Gefängnis sitzen. Das Gericht hat die Pressefreiheit neu definiert.“

Auf die Frage, was er nun von dem Prozess erwartet, der am 25. März starten soll, antwortete Dündar: „In einem normalen Rechtsstaat müsste das Verfahren nach dem Urteil des Verfassungsgerichts eingestellt werden. Aber was ist in der Türkei schon normal?“

Welche Brisanz der Prozess hat, wurde deutlich, als Präsident Recep Tayyip Erdoğan, immerhin der höchste Repräsentant des Staates, die Verfassungsrichter zwei Tage nach ihrer Entscheidung zur Freilassung von Dündar und Gül scharf angriff. „Ich werde den Spruch des Verfassungsgerichts nicht akzeptieren“, sagte Erdoğan. „Ich sehe ihn nicht als verbindlich an“. Warum dieser Furor? „Erdoğan“, so Dündar, „hat durch die Entscheidung des Verfassungsgerichts eine persönliche Niederlage erlitten. Das kann er nicht verkraften“.

Erdoğan hatte persönlich Strafanzeige gegen Dündar und Gül gestellt. Der Anlass dazu war eine für Erdoğan peinliche Enthüllungsgeschichte über illegale Waffentransporte des türkischen Geheimdienstes an islamistische Gruppen in Syrien.

Erdoğan hatte das immer abgestritten, bis Cumhuriyet im Mai letzten Jahres, kurz vor den Parlamentswahlen, Dokumente und Fotos veröffentlichte, die bewiesen, dass der türkische Geheimdienst LKW voller Waffen über die Grenze nach Syrien eskortierte. Erdoğan nannte die Enthüllungsgeschichte „Spionage“ und warf Dündar und Gül vor, sie seien keine Journalisten, sondern Mitglieder einer Terrororganisation, die gegen ihn putschen wollten.

Der Vorwurf der „Terrorpropaganda“ oder gar der „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“ wird in der Türkei seit Längerem als Mittel genutzt, um Journalisten anzuklagen und ins Gefängnis zu schicken. Deshalb behauptet die Regierung auf Kritik aus dem Ausland auch, in der Türkei gäbe es gar keine inhaftierten Journalisten, sondern nur verhaftete Propagandisten von Terrororganisationen.

„Erdoğan hat durch unsere Freilassung eine persönliche Niederlage erlitten. Das kann er nicht verkraften“

Chefredakteur Can Dündar

Dagegen hat nun das Verfassungsgericht festgestellt, die Enthüllungsgesichte von Dündar und Gül sei sehr wohl eine journalistische Arbeit, die im Rahmen der Pressefreiheit möglich ist – und schafft damit eine neue rechtliche Situation.

Die Frage ist nun, ob die zuständigen Strafgerichte dem Verfassungsgericht folgen oder aus Angst vor dem Präsidenten das Recht verdrehen.

Der Prozess am 25. März wird zeigen, ob in der Türkei kritischer Journalismus noch möglich ist. Wegen des Spionagevorwurfes ist die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Auf die Richter kommt eine schwierige Situation zu. Sprechen sie Chefredakteur Can Dündar und Ankara-Korrespondent Erdem Gül frei, müssen sie damit rechnen, ihr Amt zu verlieren und selbst angeklagt zu werden.

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