: Wo Flüchtlinge die Mehrheit sind
TÜRKEI In der Grenzstadt Kilis kommen 60 Prozent der Einwohner aus dem Nachbarland.Die Reaktionen auf die damit verbundenen Veränderungen sind unterschiedlich
Aus Kilis Jürgen Gottschlich
„Das Leben in Kilis ist interessanter geworden. Lauter, spannender, aber auch gefährlicher.“ Ahmet Ügücü, ein ruhiger Mann Mitte 30, hat einen kleinen Laden im Stadtzentrum von Kilis. Der Ort liegt nur wenige Kilometer von der syrischen Grenze entfernt und ist in der ganzen Türkei bekannt geworden, weil er gemessen an der Bevölkerung die meisten syrischen Flüchtlinge im ganzen Land aufgenommen hat. Statt 80.000 Einwohnern wie noch vor drei Jahren leben jetzt 200.000 Menschen in Kilis. 60 Prozent von ihnen sind Syrer.
„Früher“, erinnert sich Ahmet Ügücü, „wurden in Kilis um sieben Uhr abends die Bürgersteige hochgeklappt und jeder ging nach Hause. Heute ist hier bis Mitternacht immer etwas los und alle Läden haben geöffnet. Ich bin jetzt auch den ganzen Abend im Laden. Das ist gut für das Geschäft, aber schlecht für die Familie.“
Trotz all dieser Veränderungen sieht Ahmet den Zuzug der Syrer jedoch überwiegend als eine positive Entwicklung an. Sein Nachbarladen wird seit einem Jahr von einem Syrer betrieben, der auch Ahmet heißt. Die beiden sind inzwischen befreundet. Sie sehen sich auch nicht als Konkurrenten an, da die vielen Syrer in der Stadt genügend Nachfrage für alle Läden schaffen. „Ich bin froh über das neue Kilis“, meint Ahmet Ügücü, „die Syrer sind doch unsere Brüder.“
Doch längst nicht alle sehen das neue Kilis so positiv. Eine türkische Schuhverkäuferin, die ihren Namen lieber nicht in der Zeitung sehen will, sagt: „Es ist gefährlich geworden in Kilis.“ Mehrmals seien Granaten von der anderen Seite der Grenze eingeschlagen und die vielen arabischen Männer machen ihr auch Angst. Vor allem die Sicherheitslage macht vielen Sorge. Nicht nur wegen der Granatenangriffe, sondern auch weil Kilis sich in den letzten Jahren zu einer Hochburg des sogenannten Islamischen Staates (IS) entwickelt hat.
Die US-Botschaft warnt alle amerikanischen Bürger vor einem Besuch der Stadt, mit der Begründung, es bestehe eine akute Entführungsgefahr. Viele Türken haben Angst vor Anschlägen. Hilmi S., ein Kurde aus Kilis, bestätigt, dass bis vor einem Jahr IS-Anhänger noch ganz offen in der Stadt mit ihren Fahnen am Auto herumgefahren seien. „Das machen sie jetzt zwar nicht mehr“, sagt Hilmi, „aber sie sind natürlich noch da.“
Wie nervös die Einwohner von Kilis sind, bekommen wir auch selbst zu spüren. Kaum haben wir unser Auto geparkt, spricht uns auch schon ein besorgter Bürger an, der wissen will, wer wir sind und was wir in unseren Rucksäcken haben. Wenig später hält die Polizei uns an, um Ausweise und Gepäck zu kontrollieren. Einige Straßen weiter geschieht noch einmal dasselbe.
Die Sicherheitskräfte sind hochgradig nervös, vor allem seit durch die russischen Angriffe auf Aleppo noch einmal fast 100.000 Flüchtlinge in Öncepinar, dem Grenzübergang bei Kilis, gestrandet sind. „Das sind doch alles Islamisten“, meint Hilmi, „und mit 1.500 Dollar kommen sie auch rüber, selbst wenn die Grenze offiziell geschlossen ist.“
Die meisten Syrer fühlen sich in Kilis trotz der zunehmenden Nervosität dennoch wohl. „Wir werden hier gut behandelt“, sagt Mouajad, der in einem Laden für syrische Spezialitäten jobbt. „Wir kennen uns ja. Schon vor dem Krieg waren viele von uns oft hier und viele Bewohner von Kilis in Syrien.“
Trotzdem ist er auch selbst skeptisch, was passieren würde, wenn nun noch einmal die hunderttausend Flüchtlinge aus Aleppo zusätzlich ins Land kämen. „Obwohl überall gebaut, wird ist die Stadt doch überfüllt“, sagt er. „Die Mieten haben sich in den letzten zwei Jahren verdreifacht.“
Die Schuhverkäuferin ist geradezu entsetzt bei der Vorstellung, die Türkei würde nun auch noch für die neuen Flüchtlinge aus Aleppo die Tür aufmachen und sie ins Land lassen.. „Auf keinen Fall“, sagt sie, „genug ist schließlich genug.“ Man müsse zwar helfen, aber das solle doch dann bitte auf der anderen Seite der Grenze geschehen.
Selbst die Mitarbeiter von Hilfsorganisationen in Kilis und der nahegelegenen Millionenstadt Gaziantep, in der sich auch bereits 400.000 Syrer niedergelassen haben, fordern von der türkischen Regierung nicht die Öffnung der Grenze. Schahinul Hak, Leiter der Malteser-Hilfsorganisation in Kilis, ist überzeugt, dass man die Flüchtlinge auch auf der syrischen Seite der Grenze versorgen kann. „Das braucht noch etwas Zeit für den Aufbau neuer Lager“, meint er, „aber es ist doch zu schaffen.“
Auch ein Mitarbeiter der in Gaziantep ansässigen Hilfsorganisation „Einheit für die Koordinierung der Hilfe“ (ACU), die Teil der provisorischen Regierung der syrischen Exilopposition mit Sitz in Istanbul ist, will die Türkei nicht für ihre Entscheidung kritisieren, dass sie die Grenze seit Neuestem geschlossen hält. „Die Türkei hat uns schon sehr geholfen“, sagt Amir N. von ACU, „wir bräuchten stattdessen mehr Unterstützung anderer Länder, um die Leute in Syrien versorgen zu können.“ Das betont auch Schahinul Hak: „Wir benötigen hier 10 Millionen Dollar zusätzlich, um die notwendigen Zelte und Container auf der syrischen Seite der Grenze aufbauen zu können. Doch das Geld kommt nicht.“
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