Stadtgespräch
: Nicht bloß Enttäuschung

Lange haben die Linken innerhalb der regierenden Sozialistischen Partei stillgehalten. Aber das ist vorbei

Rudolf Balmer aus Paris

Lange hatten sie zähneknirschend aus Loyalität gegenüber ihrem gewählten Präsidenten François Hollande geschwiegen und zugeschaut, wie die „realpolitische“ Regierungslinie sich immer mehr von Hollandes Wahlversprechen und vom Programm des Parti Socialiste (PS) entfernte. Jetzt haben die internen Kritiker dieses ungeschriebene Gesetz des unterwürfigen Schweigens aus Parteidisziplin gebrochen.

Öffentlich, in einem kollektiven Meinungsbeitrag in der Zeitung Le Monde protestierte unter Führung der früheren PS-Chefin und Exministerin Martine Aubry eine Gruppe prominenter Linker gegen die Rechtswende der Regierung von Premierminister Manuel Valls. Damit wird aber nur endlich publik, was alle, die sich für Parteipolitik (noch) interessieren, längst wussten: Die französischen Sozialisten sind frustriert und am Rande einer Nervenkrise.

„Jetzt reicht’s“ oder im Original „Trop c’est trop“, sagt Martine Aubry. Sie wollte bekanntlich selber anstelle von François Hollande 2012 Staatschefin werden, doch bei den Vorwahlen war sie unterlegen – wie übrigens Valls auch, der damals 2011 mit seinem sozialliberalen Programm, das heute die Regierungslinie bestimmt, nur gerade 5,6 Prozent der Stimmen erhalten hatte.

Aubry wollte eine gute Verliererin sein, auch sie hatte bisher zur Rechtswende geschwiegen. „An Gründen zur Unzufriedenheit mangelte es nicht seit 2012, und intern haben wir immer wieder gewarnt“, platzt sie jetzt heraus. „Nicht mehr bloß Enttäuschung, sondern Wut“ sei heute das vorherrschende Gefühl, das sich in der Partei und darüber hinaus in den französischen Linken breit mache.

Im Text, der u. a. auch vom Grünen Dany Cohn-Bendit und vom Soziologen Michel Wie­viorka oder der Vorsitzenden der europäischen Jusos, Laura Sli­ma­ni, unter­zeichnet ist, wird das Sündenregister des Duos Hollande/Valls aufgezählt. 421 Mil­liar­den Euro habe die vermeintlich linke Staatsführung ohne Gegenleistungen in der Beschäftigung mit Zugeständnissen an den Arbeitsgeberverband Medef verbuttert. Mit dem Vorschlag, verurteilten Terroristen die Staatsbürgerschaft zu entziehen, ha­be sie sich selbst in eine politische Sackgasse manövriert und mit Schande bedeckt. Dasselbe gelte auch für die Erklärungen von Valls in der Flüchtlingspolitik, während Angela Merkel im Unterschied zu ihm die EU „vor der Entehrung bewahrt“ habe.

Was aber wirklich das Fass des Unmuts im linken Lager zum Überlaufen bringt, ist eine Vorlage zur Arbeitsrechtsreform, die verdächtig der Medef-­Wunschliste entspricht. Das sagen auch die neun Gewerkschaftsverbände, die sich diese Woche in seltener Eintracht gegen diese Vorlage verbündet haben und bereits mit einem Generalstreik drohen. Eine von der Feministin Caroline de Haas lancierte Petition gegen die „Loi El-Khomri“ ist in wenigen Tagen von mehr als 400.000 Leuten unterzeichnet worden. Die bürgerliche Opposition reibt sich die Hände und streut Salz in die Wunde, indem sie lautstark verkündet, sie wolle diese Reform zur Liberalisierung des Arbeitsrechts unterstützen. Und sei es auch nur, um mit falschen Komplimenten Hollande und Valls zusätzlich zu schwächen.

Für Aubry und ihre Mitverschworenen setze diese Reform der Ministerin Myriam El-Khomri die Arbeitnehmer einer „per­manenten ­Erpressung“ durch die Arbeitgeber aus, das französische Sozial­modell würde damit definitiv untergraben und „Frankreich nachhaltig geschwächt“. Die Anklage lautet auf moralischen und politischen Verrat: „Was bleibt von den Idealen des Sozialismus, wenn Schritt für Schritt seine Prinzipien und Grundwerte aufgegeben werden?“ Die Zeit des Krötenschluckens ist vorbei. Das hatte die Linke außerhalb des PS schon lange gesagt – ohne Echo und Ergebnis. Hollande droht eine Meuterei in seiner politischen Familie und eine Spaltung der Partei. Schon wird öffentlich darüber diskutiert, ob Hollande nur seine Arbeitsministerin oder auch seinen Premierminister opfern müsse, um bis zum Ende seines Mandats in 15 Monaten noch so etwas wie eine Mehrheit zu retten.