: Schweiz mit Tunnelblick
Verkehr Sollen wieder mehr Autos durch den Gotthardtunnel fahren, oder lässt sich der Verkehr auf die Schiene verlagern? Am Sonntag stimmen die Schweizer darüber ab
aus Genf Andreas Zumach
Wenn die jüngsten Umfragen von Mitte letzter Woche Recht behalten, werden die Schweizer bei einer Volksabstimmung am kommenden Sonntag mit zumindest knapper Mehrheit den Bau einer zweiten zweispurigen Straßenröhre durch den Gotthardtunnel beschließen. Befürwortet wird das Projekt von der Regierung in Bern und der Parlamentsmehrheit aus bürgerlichen Mitteparteien und der rechtspopulistischen Schweizer Volkspartei (SVP). Um die neue Straßenröhre zu verhindern, haben die Schweizer Alpeninitiative, links-grüne Parteien und rund fünfzig Verbände die Volksinitiative lanciert, über die am Sonntag abgestimmt wird.
Die Gegner befürchten, dass entlang der Gotthardroute und in den Seitentälern der Autoverkehr und damit auch Lärm und Dreck zunehmen. Zudem sehen sie die 1994 beschlossene „Alpenschutzinitiative“ vor dem Aus. Damals hatten die Eidgenossen mit großer Mehrheit beschlossen, den Güterverkehr in den Alpen von der Straße auf die Schiene zu verlegen. Dazu wurden seitdem rund 24 Milliarden Franken (22 Milliarden Euro) investiert, unter anderem für einen 2007 eröffneten Eisenbahntunnel.
Der Gotthardstraßentunnel ist seit 35 Jahren in Betrieb und soll in den nächsten Jahren saniert werden. Damit die 17.000 Autos, die täglich im Schnitt durch den Tunnel rollen, die Strecke auch während der Bauarbeiten nutzen können, wollen die Schweizer Regierung und die Parlamentsmehrheit eine zweite Straßenröhre bauen. Nach der Sanierung würden dann zwei Röhren mit vier Spuren zur Verfügung stehen. Weil die Schweizer Verfassung zum Schutz der Alpen einen Kapazitätsausbau für den Straßenverkehr verbietet, sollen aber nur zwei Spuren genutzt werden.
Die Ausbaugegner fordern, den Auto- und Güterverkehr auf Eisenbahnwaggons zu verladen und durch den Eisenbahntunnel zu führen. Sie befürchten, dass der neue Straßentunnel nach der Sanierung doch für den Verkehr offen bleibt und durch die dann vier statt bislang zwei Fahrspuren mehr Verkehr angelockt wird. Diesem Verdacht und dieser Befürchtung gab die zuständige Verkehrsministerin Doris Leuthard von der Christlichen Volkspartei (CVP) nach monatelangen Dementis letzte Woche neue Nahrung. Leuthard erklärte, „natürlich“ habe das „Volk das Recht“, auch den Verfassungsartikel zum Alpenschutz von 1994 wieder zu ändern.
Die Gegner der neuen Straßenröhre haben nachgewiesen, dass das Bauprojekt über 4 Milliarden Franken kosten würde, statt der von der Regierung behaupteten 2,3 Milliarden Franken. Am preiswertesten sei es, den Verkehr auf die Schiene zu verlagern; am Lötschbergtunnel werde dies schon erfolgreich praktiziert.
Verkehrsministerin Leuthard ist die lautstärkste Befürworterin der neuen Straßenröhre. Seit Monaten tourt sie durch das Land und wirbt für das Projekt. Dabei attackiert sie Gegner des Projekts für Schweizer Verhältnisse ungewöhnlich scharf, häufig wird sie dabei persönlich.
Selbst Tunnelgegner aus ihrer eigenen Partei rätseln über Leuthards Motive. Zumal die Verkehrsministerin noch bis Januar 2012 entschieden gegen eine zweite Röhre war. Die Milliardenausgaben für eine zweite Röhre seien „nicht sinnvoll investiertes Geld“ erklärte Leuthard damals laut dem vertraulichen Protokoll einer nichtöffentlichen Sitzung der zuständigen Parlamentskommission. Und weiter: „Wir bauen ja kaum zwei Tunnels und lassen je eine Spur leer. Das wäre scheinheilig.“
Ein halbes Jahr später, im Juli 2012, änderte die Ministerin abrupt ihre Meinung und befand, ein zweiter Tunnel sei nun doch „die sinnvollste Lösung“. Wer oder was die Ministerin mit welchen Mitteln zu diesem Sinneswandel bewegt hat, ist Gegenstand zahlreicher Spekulationen. Zumal Leuthard ihren Schwenk niemals erklärt hat. Hartnäckig hält sich der Verdacht, sie sei vom „Gotthard-Tunnel sicher JA“-Komitee der Straßenröhrenbefürworter gekauft worden. Sieben der zwölf führenden Köpfe in dem Komitee sind mit Bauunternehmen oder mit Tunnelbaufirmen verbunden.
Im Kopräsidium sitzt der SVP-Parlamentsabgeordnete, Adrian Amstutz, Zentralpräsident des Schweizerischen Nutzfahrzeugverbands Astag, der einflussreichen Lobby für den Güterverkehr auf der Straße. Nach einem Auftritt Leuthards in der überaus populären Politik-Talkshow „Arena“ in der vergangenen Woche, wies der Zürcher Tagesanzeiger der Ministerin eine Reihe von Falschbehauptungen und irreführenden Aussagen zu dem Straßenröhrenprojekt und seiner angeblichen Alternativlosigkeit nach.
Diese Woche distanzierte sich der Rechtsprofessor Philippe Mastronardi von der Universität St. Gallen öffentlich von Leuthard, weil sie dessen kritisches Gutachten zu dem Projekt selektiv und falsch zitiert und für sich vereinnahmt hatte.
Am Sonntag nun können die Schweizer darüber abstimmen, ob sie „die Änderung vom 26. September 2014 des Bundesgesetzes über den Strassentransitverkehr im Alpengebiet (STVG) (Sanierung Gotthard-Strassentunnel) annehmen“ wollen – oder nicht.
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