: "Der Staat darf Essgewohnheiten nicht per Dekret verordnen"
Freiheitsrechte Gesundheit ist nicht der einzige Wert im Leben, sagt der Philosoph Thomas Schramme. Statt Bevormundung plädiert er für Aufklärung
46, ist Philosophieprofessoran der Uni Hamburg. Er forscht unter anderem zu Grund und Grenzen staatlicher Gesundheitsförderung.
taz: Herr Schramme, im Kampf gegen Fettleibigkeit bei Kindern fordert die WHO ein Umsteuern im Ernährungs- und Bewegungsverhalten – auch mit staatlicher Hilfe. Zu Recht?
Thomas Schramme: Das hängt davon ab, welche Aufgaben der Staat haben soll. Der Staat kann sich als Hüter der Gesundheit von Menschen verstehen – oder als Schiedsrichter zwischen verschiedenen Interessen. In den meisten westlichen Gesellschaften ist die Freiheit ein so zentraler Wert, dass wir es ablehnen, sollten Regierungen demnächst Essgewohnheiten per Dekret verordnen wollen.
Aber hier geht es um Kinder.
Richtig, Kinder sind vulnerabel. Wenn extremes Übergewicht und dessen Folgen ihre gesellschaftliche Inklusion gefährden, weil sie stigmatisiert werden und langfristig mangelnde Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben, dann handelt es sich nicht um ein privates, sondern ein öffentliches Problem.
In diesem Fall ist staatliche Einmischung opportun?
Wenn der Staat eingreift, unterstellt er zugleich, dass die Eltern – insbesondere aus bestimmten sozioökonomischen Gruppen – nicht in der Lage sind, richtig für ihre Kinder zu sorgen. Das ist eine problematische Botschaft.
Wieso?
Weil es einen Freiheitseingriff in die Rechte der Eltern darstellt und damit der falsche Weg beschritten wird.
In New York hat der Bürgermeister verfügt, dass Cola in Kinos wegen des hohen Zuckergehalts nicht mehr in XXL-Bechern verkauft werden darf. Was spricht dagegen?
Statt eines XXL-Bechers kauft man sich dann zwei kleine.
Der Staat trifft auch sonst Regelungen für schädliche Stoffe, Stichwort Rauchen.
Die Frage ist, wie zielführend das im Einzelfall ist. Die Schadhaftigkeit des Cola-Konsums beispielsweise ist eher in der langfristigen Menge zu sehen als darin, dass jemand einmal eine XXL-Cola trinkt. Man kann also XXL-Becher nicht wie Giftstoffe einordnen. Und abgesehen von diesem Beispiel: Wir haben eine Ideologie des freien Marktes. Aus guten Gründen bauen wir auf die Verantwortungsfähigkeit des Konsumenten. Wir tun täglich gesundheitsgefährdende Dinge, wir machen riskante Sportarten wie Skifahren. Gesundheit ist nicht der einzige Wert. Ich finde es anmaßend zu sagen, weil etwas potenziell gesundheitsschädlich ist, kann es keine gute Entscheidung sein.
Aber der Staat dürfte der Industrie vorschreiben, den Zuckergehalt zu begrenzen?
Auch das scheint mir der falsche Weg zu sein. Besser ist es, über die Inhaltsstoffe von Produkten zu informieren, etwa über ein Ampelsystem. Denn das ist kein Freiheitseingriff, sondern bietet die Voraussetzungen, um eine informierte Entscheidung für sich treffen zu können. Gesundheitswissenschaftler sprechen hier von Verhältnisprävention statt Verhaltensprävention.
Was heißt das?
Das heißt, dass man eher die Umstände steuert, in denen Entscheidungen getroffen werden – etwa indem man Angebote für gesunde Mahlzeiten macht. Das ist etwas anderes, als alles zu verbieten, was ungesund ist.
Schulkantinen sollten verstärkt frisches, kalorienreduziertes Essen anbieten?
Aus Sicht der WHO sind Pizza und Pommes gesundheitsschädlicher als Schwarzbrot und Gemüse, keine Frage. Es kommt aber vor allem darauf an, den Kindern den Umgang mit dem Essen beizubringen, ihnen zu zeigen, dass in einer gewissen Mäßigung und Ausgewogenheit ein Gut liegt.
Verbote helfen nicht?
In Großbritannien, das weiß ich aus eigener Erfahrung, wurde mal versucht, an Schulen gesundes Essen durchzusetzen. Selbstverständlich haben die Kinder sich ihre Chips und Burger dann eben auf anderem Wege beschafft. Statt für Bevormundung plädiere ich für Aufklärung – der Eltern wie der Kinder.
Der Staat könnte Eltern übergewichtiger Kinder an den Behandlungskosten für adipositasbedingte Krankheiten beteiligen.
Tatsächlich beobachten wir angesichts der Kostenexplosion im Gesundheitswesen eine sinkende Bereitschaft vieler Menschen, die Therapiekosten für vermeintlich selbst verschuldete Gesundheitsprobleme mitzutragen. Aber dann brauchen wir kein solidarisch finanziertes Gesundheitssystem mehr, dann können wir gleich sagen, jeder muss selbst für sich privat vorsorgen. Wohin das führt, ist klar: Den Menschen, die schon jetzt zu dick sind, wird es noch schlechter gehen, weil viele von ihnen sich keine Gesundheitsfürsorge leisten können würden. InterviewHeike Haarhoff
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