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Anzeigen auch in Hamburg gestiegen

ÜBERGRIFFE Auf St. Pauli kam es in der Silvesternacht zu ähnlichen Vorfällen wie in Köln. Die Polizei hält sich bisher bedeckt, sie hatte nur wenig mitbekommen. Mittlerweile gibt es schon über 150 Anzeigen wegen Diebstahl, Raub und sexueller Belästigung

Hilft oft auch nichts: Einsatzfahrzeug der Polizei auf der Großen Freiheit in Hamburg Foto: Christian Charisius/dpa

von Katharina Schipkowski

Als sich abzuzeichnen begann, dass sich in der Hamburger Silvesternacht Ähnliches ereignet hatte, war über die Vorkommnisse um den Kölner Hauptbahnhof bereits international berichtet worden. Erst als JournalistInnen bei der Hamburger Polizeipressestelle anriefen, gab die Polizei eine ­Meldung raus, in der sie potenzielle Opfer und Zeugen von Übergriffen auf St. Pauli aufrief, sich zu melden. Mittlerweile haben mehr als 153 Betroffene Anzeigen erstattet. Aber während in Köln der Polizeipräsident und die Leiterin der Polizeipresseabteilung zurückgetreten sind und mehr als 560 Anzeigen vorliegen, ist in Hamburg noch immer vieles unklar.

„Bisher konnte die Polizei keinen Tatverdächtigen festnehmen“, sagte Polizeipressesprecher Jörg Schröder der taz. Genaue Zahlen über die Anzeigen, die seit dem 5. Januar ­kontinuierlich gestiegen sind, will die Polizei nicht nennen. „Die Ermittlungen laufen auf Hochtouren“, erklärte Schröder am ­Donnerstagvormittag. Erst in der Sitzung des Innenausschusses am Donnerstagabend will Innensenator Michael Neumann aktuelle Zahlen und Ermittlungsergebnisse bekannt geben.

Trotzdem lassen sich die Ereignisse der Silvesternacht anhand von Zeugenaussagen und den spärlichen Polizeinformationen ungefähr rekonstruieren: Gegen zwei Uhr morgens in der Silvesternacht war es in der Großen Freiheit auf St. Pauli so voll, dass sich die Menschenmasse weder vor noch zurück bewegte. Auf Handyvideos von Türstehern und PartygängerInnen sieht man Menschenmassen, Gedrängel, Böller, die durch die Gegend fliegen und einen Notarztwagen, der sich nur ganz langsam einen Weg durch die Menge bahnt. 50.000 Menschen haben zu Spitzenzeiten in der Nacht auf St. Pauli gefeiert, schätzt die Polizei.

Um kurz nach 2 Uhr sperrten die BeamtInnen den Zugang zu der öffentlichen Straße. Mit einem Polizeiwagen stellten sie sich mitten auf dem Beatles-Platz am Anfang der Großen Freiheit und blockierten den Durchgang. Eine halbe Stunde später entspannte sich die Lage – aber nur für fünf Minuten, bis die Polizei den Zugang erneut sperrte und die Straße kurze Zeit später teilweise räumen ließ. Dieser Ausnahmezustand hielt bis 4 Uhr morgens an, danach herrschte auf der Großen Freiheit wieder Normalbetrieb. Um 6.30 Uhr morgens entließ die Polizei erste BeamtInnen in den Feierabend.

Von den sexuellen Übergriffen auf der Straße zwischen den Nachtclubs, von dem Umringtwerden von Männergruppen, die alle gleichzeitig Frauen angrapschten, drängelten und schubsten, sie zu Fall brachten, die Opfer erniedrigten und sie nicht aus der Situation entkommen ließen, bekamen die BeamtInnen die ganze Nacht über nichts mit. An der Davidwache waren die Nacht über nur sechs Anzeigen eingegangen, davon vier wegen sexueller Belästigung in Zusammenhang mit Raub oder Diebstahl. Das ist wenig für eine Nacht auf St. Pauli. Am Mittag des 1. Januar vermeldete die Polizei: „Tausende haben entspannt zusammen Silvester gefeiert.“

Frauen wurden von Männergruppen „umzingelt“

Der Tag nach dem 1.Januar war in diesem Jahr ein Samstag. Bis das Hamburger Landeskriminalamt sich einen Überblick über die Lage verschafft hatte, war schon der 5. Januar gekommen. Zu diesem Zeitpunkt lagen dem Landeskriminalamt 13 Anzeigen wegen Raub, Diebstahl und Beleidigung auf sexueller Basis vor. Im Laufe des Tages wurden es 27 Anzeigen, zwei Tage später 70, über das Wochenende dann 153.

Wie in Köln beschreiben die Frauen, die Opfer der Übergriffe wurden, die Täter äußerst vage als „südeuropäischen, südländischen, arabischen oder nordafrikanischen Aussehens“. Zudem gehen die Schilderungen der Tat­hergänge auseinander. Gemein sei allen Beschreibungen laut Schröder „das Umzingeltwerden“ durch Männergruppen.

Dem zurückhaltenden Informationsverhalten der Polizei steht eine polarisierte Debatte in der Stadt gegenüber. Vom „entfesselten Sex-Mob“, „Sex-Gangstern“ und regelrechten „Chroniken des Grauens“ ist im Hamburger Abendblatt und in der Morgenpost die Rede. „Wer so etwas tut, sollte abgeschoben werden“, forderte der Erste Bürgermeister Hamburgs Olaf Scholz (SPD).

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