Wissenschaftler über polnische Rechte: „Kaczyński misstraut allen“

Polen ist ein anderes Land geworden: Philipp Ther, Sachbuchpreisträger, über den Nationalismus und die Wirtschaftspolitik Polens nach 1989.

Jaroslaw Kaczyński mit zwei anderen Männern

Zum Husten: Jaroslaw Kaczyński. Foto: AP

taz: Herr Ther, woran merkt man, dass die Polen noch nie im Weltraum waren?

Philipp Ther: Den kenne ich nicht.

Der Große Wagen ist noch da. Den hat Harald Schmidt in den neunziger Jahren erzählt. Die Konjunktur der Polen-Witze ist heute vorbei. Warum?

Die Polen-Witze waren damals schon überaltert und etwas einfallslos. Die Wahrheit ist komplizierter. Erstens war Polen überwiegend ein Transitland für gestohlene Autos. Und zweitens wurden in Deutschland besonders gerne geleaste Luxuskarossen gestohlen. Ein ganz einfaches Geschäftsmodell: Das Auto ließ man stehlen, quasi auf Bestellung oder gleich in Polen, wenn man die Leasingrate nicht mehr zahlen konnte.

Dort wurde das Auto versteckt, bis die Versicherung den Versicherten ausbezahlt hatte. Das Auto ist dann Eigentum der Versicherung, aber in Wahrheit abgeschrieben. Dann taucht das Auto wieder auf und wird verbilligt verkauft. Alle haben etwas davon, nur die Versicherten nicht, denn sie bezahlen den Schaden über die erhöhten Prämien. Aber es stimmt: All die Stereotype, auch das der „polnischen Wirtschaft“ , das noch auf die Nazis zurückgeht, sind verschwunden. Polen ist eben ein völlig anderes Land geworden.

Stattdessen gibt es heute das Bild der faulen Griechen. Brauchen wir Deutsche immer neue ausländische Gruppen, denen wir negative Stereotype zuschreiben?

Deutschland funktioniert anders als etwa die USA oder Frankreich. Dort ist es mit dem Nationalismus so, dass man sich über andere erhebt, indem man sich selbst bestimmte positive Eigenschaften zuschreibt.

Und das geht in Deutschland nach dem Nationalsozialismus nicht so gut ...

Es ist es ein Teil des deutschen Nationalcodes, die anderen schlecht zu machen, um besser dazustehen. Die anderen sind dann weniger umweltbewusst, tolerant, fortschrittlich,aufgeklärter, gleichberechtigter als wir.

ist Professor am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien. Für den Band „Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa“ (Suhrkamp, 26,95 Euro) erhielt er den Preis der Leipziger Buchmesse 2015 für das beste Sachbuch.

Und der polnische Nationalcode? Kann man mit Blick auf die neue Kaczyński-Regierung sagen: Starker Nationalismus, Misstrauen gegen alles Fremde?

Dabei handelt es sich um einen xenophoben Nationalismus, der auf den Traumata des Zweiten Weltkriegs und noch älteren Mustern beruht. Jarosław Kaczyński misstraut allen, den Russen, der EU und vor allem Deutschland. Außerdem werden traditionelle Mythen bemüht, Polen als Bollwerk des Abendlands und der katholischen Kirche und als eine Nation der Opfer.

Jetzt ist ein neues Element ins Spiel gekommen, die Abwehr der Flüchtlinge und ein dezidierter Anti-Islamismus. Das hat vor allem populistische Motive, die neue Regierung versucht die Ängste der Bevölkerung auszunutzen. Dabei hat das alte Polen, die 1795 untergegangene Adelsrepublik, als einer der wenigen europäischen Staaten eine positive Integrationserfahrung mit Muslimen. Tausende von Tataren, die in den polnisch-russischen Kriegen auf polnischer Seite kämpften und dann fliehen mussten, kamen ins Land und wurden anschließend gut integriert.

Woher kommt das? Polen gilt doch ökonomisch als osteuropäisches Erfolgsmodell.

Die Regierung hat aufgrund des Wahlrechts bzw. der Tatsache, dass die Linke zersplittert war und den Einzug ins Parlament verpasste, mit nicht einmal 38% eine absolute Mehrheit eine absolute Mehrheit der Mandate erreicht. Außerdem wirkte die vorherige Regierung nach acht Jahren matt und einfallslos. Der soziale Hintergrund liegt darin, dass ein erheblicher Teil der polnischen Gesellschaft nicht oder nur bedingt vom Aufschwung der vergangenen 23 Jahre profitiert hat.

Und es gibt ähnlich wie in Deutschland ein Problem mit der Generationengerechtigkeit. Die jungen Menschen sind zwar mit einem größeren Wohlstand aufgewachsen, haben auf dem Arbeitsmarkt aber schlechtere Perspektiven als die Generation vor ihnen, in Polen waren sogenannte Schrottverträge die Regel, es gibt sogar einen Namen für dieses Prekariat „Śmiecówki“ (wörtlich Schrottvertragler, es ist mit dem ebenfalls nicht übersetzbaren Wort „Hartzer“ in Deutschland vergleichbar). Viele der Frustrierten haben PiS gewählt, die ihnen auch jede Menge soziale Wohltaten versprochen hat.

Begonnen hat alles 1989/90 mit dem neoliberalen Balcerowicz-Plan , mit dem die Planwirtschaft auf Marktwirtschaft umgestellt wurde.

Da wären wir schon bei der Geschichte der Transformation. Auf internationaler Ebene und bei den polnischen Liberalen dominiert die simple These: Erst kamen die radikalen Reformen und dann der ökonomische Erfolg. Die Wahrheit ist komplizierter. In Polen - ebenso wie in Ostdeutschland - gab es zunächst eine sehr dogmatisch angewandte Schocktherapie mit den Elementen Liberalisierung, Privatisierung und Deregulierung.

Manches davon war angesichts der fatalen ökonomischen Lage Polens im Jahr 1989 sinnvoll. Es hat aber dann nicht so funktioniert wie gedacht. Balcerowicz und seine westlichen Berater erwarteten Die Wirtschaft bricht um fünf Prozent ein, die Arbeitslosigkeit steigt nur leicht.

Und dann kam ein Desaster?

Minus 18 Prozent Wirtschaftsleistung innerhalb von zwei Jahren, die Arbeitslosenzahl stieg über zwei Millionen. Und das in einem 40 Millionen-Einwohner-Land. Es bleibt die Frage: Wie kam es dann zum späteren Aufschwung? Kam der wegen oder trotz der Reformen? Und da gebe ich eine gemischte Antwort. Bestimmt auch wegen der Einsicht, dass das alte System am Ende war und etwas Neues begann. Alle gesellschaftlichen Kräfte mussten damit umgehen. Insofern kann ein radikaler Schnitt helfen. Das hat in Polen Kräfte befreit. Man könnte daraus in Italien oder Griechenland wahrscheinlich lernen, nur lässt sich die Geschichte nicht wiederholen und auch kein ökonomisches Standardrezept

Als Konsequenz haben sich viele kleine Unternehmen gegründet.

Ja, allein in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn bis 1993 etwa vier Millionen. Oder nehmen wir meinen eigenen Sektor, die Universität. Die Gehälter waren 1989/90 so schlecht, dass man von einem normalen Uni-Gehalt nicht mehr leben konnte. Daher gab es dann viele Aus- und Neugründungen: halbstaatliche Institutionen, private Studiengänge und Hochschulen. Heute haben Polen und gerade Warschau eine sehr lebendige Wissenschaftslandschaft.

Aber: Die Polen waren mit ihrer Wirtschaftsstrategie nach dem Scheitern der Schocktherapie eher pragmatisch. Auch die Treuhandprivatisierung in der ehemaligen DDR war für sie ein Negativbeispiel. Für die polnischen Postkommunisten, die von 1993-97 regierten, erst recht. Sie bevorzugten oft Mischmodelle: Das Unternehmen bleibt zumindest in versteckter staatlicher Trägerschaft, die Privatisierung fand manchmal nur auf dem Papier statt, aber die Unternehmen wurden natürlich verpflichtet, Gewinne zu erwirtschaften. Viele von den Firmen waren sehr erfolgreich.

Zum Beispiel ...

... die Werften. Wobei Grundbestandteile der Reformen nie zurückgenommen wurden, auch von den Postkommunisten nicht. Es wurde kein neuer staatlicher Sektor aufgebaut, die Wirtschaft blieb auf marktwirtschaftlichen Kurs. Der relative Erfolg Polens heißt: Erstens eine gewisse Kontinuität in den Grundzielen , zweitens Pragmatismus, drittens nicht die Fehler der Nachbarn wiederholen.

Viele Polen und auch Tschechen haben heute einen Zweit- oder Dritt-Job. Kann man denn von einem erfolgreichen Modell reden, wenn die Leute 60-Stunden in der Woche arbeiten?

Das ist kein schöner Alltag. Aber: Für eine erfolgreiche Transformation kommt es auf die Steuerung von oben an, mindestens ebenso wichtig war die Transformation von unten. Was Polen stark vorangebracht hat, war der massenhafte Aufbruch in den Kapitalismus, eben die Bereitschaft, selbst ein Unternehmen zu gründen. Diese Nischen werden heute immer kleiner aufgrund der Konkurrenz großer Konzerne. Aber Millionen von Polen haben damals die Chancen genutzt, in Ostdeutschland war das viel weniger der Fall.

Sie sagen, dass in Ostdeutschland diejenigen, die die kleinen Unternehmen hätten gründen können, in den Westen gegangen sind.

Die CSSR hatte fast so viele Einwohner wie die DDR. Dort gab es dann bis 1993 1,2 Millionen Unternehmensgründungen. Aus der ehemaligen DDR wanderten bis 1994, 1,4 Millionen Menschen nach Westdeutschland. Sprich: Viele Menschen, gerade die Aktiven und Unternehmungslustigen sind gegangen, anstatt zu Hause was aufzubauen.

Warum?

Erstens wegen der radikalen Liberalisierung durch die Deutsche Einheit und den EG-Beitritt. Die Kleinunternehmen waren über Nacht schutzlos der westlichen Konkurrenz ausgesetzt. Zweitens die Währungsunion. Der Umrechnungskurs 1:1 war ein Todesstoß für die DDR-Wirtschaft. Und drittens war die Vereinigung eigentlich eine Erweiterung der alten Bundesrepublik. Es gab keine Vorstellung davon, wer die neuen Eliten in Ostdeutschland sein sollen. Das ist auch ein wenig tragisch, weil es in der DDR mehr Selbstständige gab als in anderen sozialistischen Ländern. Gerade die Selbständigen der ehemaligen DDR gehörten dann zu den Transformationsverlierern.

Sowohl in Ostdeutschland als auch in Polen gibt es besonders starke Vorbehalte gegen die Aufnahme von Flüchtlingen, obwohl beide Gebiete selbst starke Auswanderungswellen hatten. Hängen die Vorbehalte mit der Wirtschaftsgeschichte zusammen?

Der wichtigere Faktor scheint mir, dass man keine Erfahrung mit muslimischen Minderheiten hat und daher entsprechende Ängste. Die Defizite bei der Integration in Westeuropa wirken auch abschreckend. Der Rest ist vor allem Populismus bzw. ein politischer Wettbewerb zwischen verschiedenen populistisch-nationalistischen Parteien.

In Polen sind die Postkommunisten nicht mehr in Sejm vertreten. Bei ihnen wie bei den anderen osteuropäischen postkommunistischen Parteien gab es nirgends die Vorstellung einer linkssozialdemokratischen, keynesianischen Transformation. Warum?

Sie waren eher in Richtung New Labour orientiert. Erstens aufgrund der eigenen Vergangenheit, zweitens, weil sie unter Verdacht standen, alte Kommunisten zu sein. Um neue Glaubwürdigkeit zu bekommen, haben sie sich besonders an das neoliberale Modell angepasst. Und drittens hatten sie nicht viel Spielraum. Polen und Ungarn zum Beispiel waren nach im 1989 im Ausland sehr verschuldet. Und deswegen mussten gerade die ungarischen Postkommunisten 1995 das erste, ganz strikte Sparpaket verabschieden.

Der IWF saß bei den verschuldeten Ländern mit am Tisch und hätte bei einer Steigerung der Inflation sofort eingegriffen. Aber selbst wenn sie damals eine Nachfragepolitik wie in den 70ern im Westen betrieben hätten, wären wahrscheinlich nur mehr westliche Importwaren nachgefragt worden.

Sie sprechen von einer Kotransformation, die Deutschland mit der Agenda 2010 vollzogen hat. Hat die Bundesregierung geglaubt, vom Osten lernen zu müssen?

Die meisten Modelle für die Hartz-Reformen kommen aus dem Westen. Aber die Bundesregierung hat verstärkt nach Osten geschaut, weil die damaligen EU-Beitrittskandidatenländer viel dynamischer waren. Und das hat zur Frage geführt: Wieso läuft das denn bei denen besser? Und da gibt es zwei Referenzpunkte: Der eine, eher für Experten, waren die Teilprivatisierung der Rentensysteme und andere staatlicher Kernkompetenzen, das zweite die Flat-Tax-Debatte. Also ein einheitlicher Steuersatz für alle Unternehmen, Gewerbetreibenden, auch in der Einkommenssteuer. Die Slowakei hat das 2004 eingeführt, in Höhe von 19 Prozent. Das hat auch in Deutschland eingeschlagen.

Der hat sich aber in Deutschland nicht durchgesetzt.

Weil es doch verschiedene Traditionen gibt. In Osteuropa hat man den Staat nicht als positive Macht empfunden, deshalb war dort die Steuermoral niedrig. Aber in Deutschland würde es dem Gerechtigkeitsempfinden widersprechen, wenn eine Kassiererin prozentual genauso viel Steuern zahlt wie Ex-VW-Chef Winterkorn. Außerdem erleidet der Staat mit der Flat Tax Steuerverluste, die man nicht leicht ausgleichen kann.

Wie geht es weiter mit dem polnischen Wirtschaftswunder? Die Welt sah es kürzlich eher kritisch: Polen sei zu sehr die Werkbank der Deutschen und hätte noch nicht genügend privatisiert, die Fluggesellschaft LOT etwa sei immer noch staatlich.

Polen ist in der Tat ebenso wie andere Nachbarstaaten sehr stark abhängig davon, wie es in Deutschland läuft. Dazu kommt: Das bisherige Wirtschaftswachstum beruht - abgesehen von günstigen Löhnen - auch auf Aufhol-Effekten, etwa im Konsum und im Wohnungsbau. Und das kann nicht ewig so weitergehen. Die postkommunistischen Länder werden auch teurer, die sogenannte Middle-Income-Trap schlägt zu: also halb entwickelte Länder, die zu teuer werden, sodass die Investoren nicht mehr kommen.

Gerade ein Land wie Polen müsste mehr in Forschung und Entwicklung investieren, um als Standort attraktiv zu bleiben. Polen hat aber bei den Pisa-Tests sehr gut abgeschnitten, das staatliche Bildungssystem ist wieder besser geworden. Damit schafft man Humankapital. Und nach wie vor gibt es den Nimbus der Selbstständigkeit.

Also nicht vom Staat abhängig sein und nicht im Betrieb arbeiten wollen.

Meistens macht das ja auch glücklicher als von großen Hierarchien abhängig zu sein, wo das Leben zwar bequem, aber weniger selbstbestimmt und stagnant ist. Deutsche setzen mehr auf Sicherheit, viele Polen haben eine andere Idee vom Leben.

Und was wird die neue Regierung wirtschaftspolitisch machen?

Das ist eine seltsame Mischung aus sozialen Wohltaten, die eigentlich unbezahlbar sind, zum Beispiel das Absenken des Rentenalters bei einer rapide alternden Bevölkerung, und Wirtschaftsnationalismus. Man soll nicht immer auf die Börsen fixiert sein, aber an der Warschauer Börse läuft es 2015 schlecht – das drückt die Erwartungen für die Zukunft aus.

Sie sagen, der Neoliberalismus habe in Europa seinen Zenit überschritten. Die Griechenland-Verhandlungen wirkten anders.

Das ist in der Tat paradox. Trotz der großen Krise von 2008 wurde der Neoliberalismus fortgesetzt oder sogar radikalisiert, und zwar in allen Ländern, die in Ost- und Südeuropa vom IWF „gerettet“ wurden. Aber der Zenit ist überschritten. Diese erste Welle des Neoliberalismus in den früher neunziger Jahren bezog sich auf die Privatisierung von Staatsunternehmen, also z.B. Post und Telekom. Das wird nicht mehr rückgängig gemacht werden.

Aber die zweite Welle des Neoliberalismus, die in den Nullerjahren auch Deutschland erreichte, mit der Privatisierung von staatlichen Kernkompetenzen im Gesundheitssystem, der Rente und dem Bildungssystem ist gestoppt. Das ist in Deutschland seit der ersten Großen Koalition von 2005 der Fall. In Osteuropa wurde die Flat Tax und etliche Sozialstaatsreformen in den letzten Jahren zurückgenommen. Und generell betrachtet ist der Zenit überschritten, weil seit 2008 eigentlich niemand mehr glaubt, dass man mit den alten Modellen noch weiterkommt.

Gibt es eine Parallele zwischen dem frühen Kommunismus und dem Neoliberalismus? Beide scheinen daran zu glauben, dass man eine ganze Generation für ein höheres Ziel opfern darf.

Karol Modzelewski, ein ehemaliger Solidarność-Aktivist und Historiker, hat in seinen wunderbaren Memoiren geschrieben: Vor 1989 hieß es, wir bauen den Sozialismus, nach 1989 hieß es, wir bauen den Kapitalismus. Da ist was dran, es ging um Opfer in der Gegenwart für eine bessere Zukunft. Schwierig wird es, wenn das Ziel nicht mehr klar ist. Da sind wir heute. Niemand weiß, wo die aktuelle Politik hinführen soll.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.