Russland und die Türkei: Neues Feindbild Graue Wölfe

Nach dem Abschuss eines russischen Jets durch die Türkei holt Putin zum Rundumschlag aus. Türken sollen nicht mehr in Russland arbeiten dürfen.

Wladimir Putin bei der Klima-Konferenz in Paris.

Bloß kein Gruppenfoto mit Tayyip Erdogan: Präsident Wladimir Putin bei der Klima-Konferenz in Paris. Foto: reuters

MOSKAU taz | Russlands Präsident Wladimir Putin kam zu spät zum Klimagipfel in Paris. Absichtlich verpasste er das Gruppenfoto aller Staatschefs. Auf keinen Fall wollte der Kremlchef seinem türkischen Ebenbild Präsident Recep Erdogan bei der Fotosession über den Weg laufen.

Nach dem Abschuss eines russischen SU-24-Jets im türkisch-syrischen Luftraum vergangene Woche bemüht sich Ankara um einen Gesprächskontakt zum Kreml. Moskau mauert jedoch. Die Hotline in die Türkei sei abgeschaltet, frohlockte Putins medialer Chefanheizer Dmitri Kiseljow schadenfroh am Sonntag im Staatsfernsehen.

An der einseitigen Kontaktsperre wird sich in den nächsten Wochen auch erst mal nichts ändern. Wladimir Putin hat den Abschuss immer noch nicht verwunden. Er schäumt geradezu. Dass ihm das passieren konnte, kann und will er nicht verzeihen.

Erst vor kurzem verriet der Präsident im Diskussionsclub Waldai die präsidiale Praxisphilosophie: Wenn eine Schlägerei in der Luft liege, müsse man der Erste sein, der zuschlägt. Petersburger Hinterhöfe hätten ihn das gelehrt.

Nuklearer Vergeltungsschlag

Auch in Istanbul scheint das nicht anders zu sein. Putin ist wütend und mit ihm sind es sehr viele Russen. Der Dumaabgeordnete Wladimir Schirinowski von der Liberaldemokratischen Partei LDPR regte einen nuklearen Vergeltungsschlag an. Ziel Istanbul. Bisher erfüllte der Chauvinist die Funktion, laut auszusprechen, was man im Kreml so im Kopf bewegt. Ein anderer Abgeordneter verlangte die Rückgabe der Kathedrale Hagia Sofia in „Konstantinopel“ in den Besitz der russisch-orthodoxen Kirche.

Landauf landab beginnen Strafaktionen gegen Türken. Im Moskauer Vorort Chimki wurden 400 Mitarbeiter der türkischen Firma Mebe unter dem Verdacht festgenommen, „extremistische Literatur“ - sprich religiöse Bücher - zu verbreiten. In Saratow mussten sich zwei Dutzend Studenten einem Drogentest unterziehen. Eine Lehrerin forderte die Schüler dazu auf, für einen neuen Bomberjet SU-24 Geld zu sammeln.

Der kommunistische Duma-Abgeordnete Walerij Raschkin will die Türken dadurch „zur Vernunft bringen“, dass Stipendien für türkische Studenten gestrichen und befreundeten Ländern wie Iran und Syrien zur Verfügung gestellt werden. Auch beliebte türkische TV-Serien sollen nicht mehr übernommen werden. In einem offenen Brief wenden sich russisch-türkische Familien mit der Bitte an den russischen Präsidenten, sie vor den Folgen feindseliger Stimmungen in Schutz zu nehmen.

Gestern lag man mit dem türkischen Freund noch am Strand, heute ist er schon ein Todfeind. Auf Knopfdruck lassen sich Gefühle, Leidenschaft und Hass in Russland inzwischen bedienen. Die große Masse folgt johlend den Kapriolen einer gewissenlosen Führung. Wofür gestern noch „ukrainische Faschisten“ und der „Rechte Sektor“ herhalten mussten, das übernehmen in der Propaganda jetzt die „Grauen Wölfe“ in der Türkei. Sie werden eingereiht in die Phalanx der antirussischen Weltverschwörung.

Der IS bleibt abstrakt

Unterdessen bleibt der Islamische Staat (IS) in Russland abstrakt. Ein brauchbares Feindbild gibt er bislang noch nicht ab. Auch der Anschlag auf den Airbus mit 224 Opfern Ende Oktober über dem Sinai änderte daran nichts. Ganz so, als wolle Moskau den IS durch mangelnde Aufmerksamkeit erst noch herausfordern.

Viel gefährlicher stellt sich aus russischer Sicht die angebliche Verbindung zwischen den Ölverkäufen des IS und der Familie Erdogan dar. Russland verfüge über ausreichende Beweise. Auch ohne Belege verfehlt die Behauptung Wladimir Putins ihr Publikum nicht.

Für den Kremlchef kam der Abschuss der SU-24 wie gerufen. Zwar ringt Putin mit der persönlichen Kränkung. Über Nacht einen so mächtigen Gegner wie die Türkei dazugewonnen zu haben, verleiht der politischen Führung indes das Gefühl, auf längere Sicht innenpolitisch nichts befürchten zu müssen. Russland tut alles, um aus Anrainern Gegner zu machen.

Von der anfänglichen Empörung ließ sich Moskau gar dazu verleiten, gegen eigene Überzeugungen zu handeln. Noch im Sommer 2014 hielt es westliche Sanktionen für nutzlos und unzeitgemäß. Kaum war der russische Jet indes zerschellt, drohte der Kreml mit schweren Sanktionen. Er zögerte aber, sie sofort zu verhängen.

Treffen, wo es weh tut

Die Türkei soll dort getroffen werden, wo es „besonders zu spüren“ ist, ordnete die Regierung an. Früchte und Gemüse werden demnächst nicht mehr ins Land gelassen. Ab Januar entfällt der visafreie Verkehr zwischen den Ländern. Reiseveranstalter dürfen überdies keine Plätze an der türkischen Sonne mehr verkaufen. Charterflüge werden eingestellt und Türken sollen ab Januar nicht mehr in Russland arbeiten dürfen.

Das Gas-Pipeline Projekt Turkish Stream und der Bau eines geplanten Atomkraftwerkes fehlen auf der Sanktionsliste. Auch türkische Mandarinen sind erst ab Neujahr verboten, um den Bürgern die Feiertage nicht zu vermiesen. Aus mancher türkischen Mandarine wurde gleichwohl über Nacht schon eine abchasische - laut neuem Aufkleber. Und noch etwas: auch die Baustellen der Fußball WM 2018 sind von Sanktionen und Arbeitsverbot für Türken ausgenommen.

Die Türkei wird der Handelskrieg nach westlichen Berechnungen 0,5 Prozent des BIPs 2016 kosten. Die Zeche bezahlt der russische Verbraucher. Er will es offensichtlich nicht anders.

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