: „Prävention legitimiert Strafe nicht“
Gerechtigkeit Gefängnis hat mit Rache zu tun, sagt Reinhard Merkel. Er wünscht sich Angebote für die Beschuldigten
65, lehrt Rechtswissenschaften in Hamburg und veröffentlichte „Willensfreiheit und rechtliche Schuld“.
taz: Sie verstehen Gefängnisstrafe nicht als Sanktion eines „Vergehens“, sondern eher als normative Rückversicherung an die Restgesellschaft. Wie wird ein Normbruch durch eine Sanktion korrigiert?
Reinhard Merkel: Ich verstehe Strafe auch als Sanktion für einen ganz konkreten Normbruch. Aber diese Funktion, die des individuellen „Schuldausgleichs“ für eine konkrete Tat, ist nicht die Primäraufgabe der Strafe. Dies ist vielmehr die symbolische „Reparatur“ der vom Täter gebrochenen Norm − genauer: die Wiederherstellung des Geltungsanspruchs dieser Norm.
Was heißt das konkret?
Die Norm, etwa das Tötungsverbot, erhebt einen universellen Geltungsanspruch: Sie gilt für alle. Diesem Anspruch hat sich der Täter durch seine Tat verweigert. Der Staat als Garant der Rechtsordnung muss darauf reagieren, will er die Normgeltung nicht preisgeben. Und diese Reaktion ist die Strafe. Ihr primärer Adressat ist also nicht der Täter, sondern der Rest der Gesellschaft. Ohne solche Verbotsnormen wäre eine friedliche Gesellschaft nicht möglich. Und deshalb wäre sie’s auch nicht ohne eine Institution, die gebrochene Normen „repariert“. Natürlich ist auch der verurteilte Täter Adressat der Strafe. Er muss die „Kosten“ der von ihm veranlassten Normreparatur tragen.
Hat Gefängnis als Präventivmaßnahme eine andere Funktion?
Nein; denn eine unmittelbar auf den Täter zielende Präventivfunktion ist überhaupt keine legitime Grundlage der Kriminalstrafe. Präventionsaufgaben erfüllen die sogenannten Maßregeln der Besserung und Sicherung, etwa die Sicherungsverwahrung. Sie knüpfen an die Gefährlichkeit des Täters an. Maßgabe für die Höhe der Strafe ist dagegen die Schuld des Täters. Mit seiner Gefährlichkeit hat sie nichts zu tun.
Wenn sich der Freiheitsentzug nicht primär an die beschuldigte Person richtet, fungiert sie dann noch als „Buße“ für eine zu begleichende Schuld?
„Buße“ ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck. Das Maß der Strafe ist der Preis, den der Täter für die Normreparatur zu bezahlen hat, damit diese glaubhaft ist. Im Übrigen erfüllt die tatsächlich verbüßte Strafe noch weitere Funktionen. Dazu gehört das Angebot an den Täter zur „Sühne“, nämlich zur Versöhnung mit der Gesellschaft und mit sich selbst. „Sühne“ und „Versöhnung“ haben nicht von ungefähr dieselbe etymologische Wurzel. Schauen Sie sich Raskolnikow in Dostojewskis „Schuld und Sühne“ an. Nach seiner Mordtat braucht er die Strafe, um mit sich selbst wieder ins Reine zu kommen.
Geht es da nicht eher um Rachsucht als um Sühne?
Historisch ging es vor allem darum; und kollektivpsychologisch stimmt es für die meisten Gesellschaften wohl noch immer. Aber das ist keine ausreichende Legitimationsgrundlage. Wenn Sie von „ungesühnt“ reden, bringen Sie den Sühnebegriff ins Spiel. Und der bedeutet richtig verstanden etwas anderes als „Rache“, nämlich ein Angebot an den Täter. Das kann dieser natürlich zurückweisen. Interview: Jana Sauer
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen