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Der Langenhorner

Herkunft Flutkatastrophe, „Spiegel“-Affäre – die Popularität Helmut Schmidts ist nicht ohne seine Zeit in Hamburg vor dem Aufstieg zum Bundeskanzler denkbar

von Jan Feddersen

Kurz nach der Ablösung durch Helmut Kohl 1982 wurde bekannt, dass Helmut Schmidt Herausgeber der Wochenzeitung Die Zeitwerden würde. Ein Posten im Schatten der Gräfin Dönhoff – also ein Direktorat auf Grüßaugustniveau, dachte man. Tatsächlich wurde Helmut Schmidt als Performer und Autor populärer denn je. Vielleicht mag eine Szene aus einer TV-Fragesendung mit Sandra Maischberger dies illustrieren. Gefragt, ob er den Preis einer Schachtel Zigaretten nach einer drohenden Tabaksteuererhöhung schon wisse, guckte er sie nicht antwortend an, drehte vielmehr seinen Kopf weg und raunte, maliziös und mit dieser gewissen hanseatischen Hochnäsigkeit, die immer freundlich bleibt: „Ich weiß es nicht.“ Schnaufte an der Kippe ziehend und fügte an: „Aber ich werde es mir leisten können.“ Ach, das war zum Weinen herablassend – ganz großes Kino!

Wie auch immer man dies im Rest der Republik empfand: Hamburger und Hamburgerinnen mochten genau diese Art sehr. Cool, wie man heute sagen würde, bleibend, um dem Gesinde des Mediengewerbes nicht allzu servil zu begegnen, womöglich sich, im Falle Schmidts, als milden Greis zu präsentieren. Nein, das war dieser Exkanzler niemals, und eventuell ist das das feinste Kompliment, das man ihm, den Jüngere ja gar nicht aus seinen testosterongesteuerten Hochzeiten kennen können, geben kann.

Helmut Schmidts Aufstieg zu einem durchsetzungsfähigen Politiker begann in einem gewissen Jahr. Es war 1962, Schmidt war Innensenator der Freien und Hansestadt Hamburg, als im Februar alle Wettervoraussicht bei den Behörden im Sinne aller Dienste nach Vorschrift weitgehend ignoriert wurde. Dass die „Flutkatastrophe“ in der Nacht vom 16. auf den 17. Februar 1962 nicht mehr als die 315 Menschenleben kostete, lag an ihm, dem gelernten Soldaten, der schon von Statur und Charisma die Staatsapparate auf Trab brachte. Schmidt, außen- und sicherheitspolitisch schon immer interessiert, organisierte kurzerhand auf dem kurzen Dienstweg Nato-Hubschrauber für die Evakuierung der Hamburger, die auf Hausdächern von den eisigen Fluten eingeschlossen waren. Dass dieses Ereignis ihm Verehrung einbrachte, lag natürlich auch daran, dass die Opfer der schlechten Deichplanung allesamt in proletarischen, in Hafengebieten lebten: Der Sozialdemokrat kümmerte sich also um jene, die es nicht in die erhöhten Elbvororte schaffen konnten.

Ein halbes Jahr später agierte Schmidt nicht minder schlecht, das war während der „Spiegel-Affäre“, als Herausgeber Rudolf Augstein festgenommen wurde, weil sein Magazin einen dem Politiker Franz Josef Strauß missliebigen Text veröffentlicht hatte. Das liberale Bürgertum und dessen studentischer Nachwuchs versammelten sich empört in einem der Haupthörsäle der Universität. Der Platz reichte kaum aus – aber eine Räumung durch die Polizei kam natürlich nicht infrage.

Lebensdaten

23. Dezember 1918:Helmut Heinrich Waldemar Schmidt wird in Hamburg geboren. Sein Vater Gustav, ein Lehrer, ist unehelicher Sohn eines jüdischen Bankiers.

1941 bis 1945:Schmidt kämpft im Weltkrieg erst an der Ost-, dann an der Westfront. Kurzzeitig gerät er in britische Kriegsgefangenschaft.

1942:Während des Kriegs heiratet Schmidt seine Jugendliebe Hannelore („Loki“). Die Ehe währt 68 Jahre lang bis zu Lokis Tod 2010.

1974 bis 1982:Schmidt ist Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland

1983:Schmidt wird Mitherausgeber der Zeit

10. November 2015:Schmidt stirbt im Alter von 96 Jahren in Hamburg.

Alle waren nervös, die Studierenden, die Uni-Führung, die Polizei – bis Helmut Schmidt, angeblich im Pfeffer-und-Salz-Mantel, in den Hörsaal schritt und mit völlig unaufgeregter Stimme sagte: Meine Damen und Herren, hier passen nicht alle rein, das ist nicht zulässig, gehen wir bitte auseinander und kommen morgen wieder zusammen, dann im Audimax. So geschah es – ein Moderator gegen die Nervosität des Tages.

Helmut Schmidt lebte bis zuletzt im Hamburger Stadtteil Langenhorn. Dort bezogen er und seine Frau Loki einen Bungalow, wie er unauffälliger nicht sein könnte. Auch dies ein Symbol seiner Beliebtheit: Langenhorn ist ein Stadtteil ziemlich fern der besseren Viertel, wo junge Nachkriegsfamilien Quartier nahmen, Reihenhäuser, niedriggeschossige Mietshäuser – auch der Bandleader James Last lebte dort zwischen einem psychiatrischen Krankenhaus und einem Hospital, das in einem SS-Bau untergekommen war. Langenhorn kam sozusagen durch Helmut Schmidt zu Weltruhm – und öfters, etwa durch den polnischen KP-Chef Edward Gierek oder den sowjetischen KP-Boss Leonid Breschnew. Der Neubergerweg gesäumt von freundlichen Menschen, die durch kein Komitee zur Freundlichkeit ermahnt werden mussten.

Im Übrigen war Schmidt nichts für andere, die sich bei einem selbstbewussten Politiker minder fühlen mochten. Bücklinge, Devote hasste der Mann, der nicht umsonst zu seinen besten Bonner Zeiten „Schmidt Schnauze“ genannt wurde. Dass er als Politiker mit für die Krise der SPD Ende der 1970er entscheidend beitrug, besser: zum Aufstieg der Grünen, mochte er geahnt haben, aber politisch stand er für das, was er für das Richtige hielt: „Wer Visionen hat, sollte besser zum Arzt gehen.“

Schmidt, der das Rauchen liebte, das Schachspiel (mit Loki), andere Frauen begehrte, ohne dass die Öffentlichkeit es je erfuhr, konnte keine Fühlung mehr aufnehmen mit den libertäreren Zeiten nach 1962. Er war verantwortlich für die Installation von Einwegspiegeln auf öffentlichen Herrentoiletten, mit denen Beamte Schwulen auflauerten, damit die sie beim bis 1969 illegalen Tun aneinander festgenommen oder wenigstens registriert werden konnten. Vor wenigen Jahren hat er das entschieden bestritten: Für antihomosexuelle Politik habe er nicht eingestanden, allerdings zugleich dem Koalitionspartner FDP nach der Bundestagswahl 1980 auch zu verstehen gegeben, die Tilgung des Paragrafen 175 sei mit ihm nicht zu machen, er wolle nicht als Kanzler der Schwulen in die Geschichte eingehen. Dafür, möchte man sagen, als der der Nachrüstung, aber das ist eine andere Geschichte.

In Hamburg hätte er bis vor einigen Jahren die Bürgermeisterdirektwahl gewinnen können, galt gar als kanzlerabel, ehe Gerhard Schröder in die Arena schritt. Zu Hause liebte er das Leben jenseits der Chi-Chi-Orte, dafür mochte er mit seiner Frau das geschützte Moorsumpfgebiet (plus Müllberg mit Weltkriegstrümmern und Kleingartenparzellen aus den Nachkriegsjahren) hinter ihrem Haus. Ging er, noch Mitte der 60er, von dort mit Loki zur U-Bahnstation Kiwittsmoor, schien er wie im Fernsehen: konzentriert, ohne Hektik und doch in Eile. „Guck mal, da gehen Muten und Loki Schmidt“ – Muten, das ist hamburgisch und die Kurzform von Helmut.

Als Bundeskanzler repräsentierte er ein gesellschaftliches Steuerungsmodell, das an das „Mehr Demokratie wagen“ Willy Brandts anschloss – und doch, zumal in Zeiten des RAF-Terrors sicher spürte, dass das demokratische Deutschland in seiner krassen Mehrheit vor allem dies haben wollte: Ruhe und Privatheit 30 Jahre nach dem Ende der Nazis, es hatte keine Empfänglichkeit für die eskalistisch-tödlichen Anmutungen jener, die für die linksradikalen Maschinen standen. Dass jenseits dieser ein grüner Aufbruch zur Welt kommen würde, blieb ihm immer unverständlich. Helmut Schmidt verstand sich als leitender Angestellter der Firma Bundesrepublik. Das hat er als Teil der schon siechenden Sozialdemokratie – gegen Strauß’ und Dreggers Nationalkonservative – gut gemacht. Am Ende imponierte vor allem eines: sein Eigensinn in jeder Hinsicht.

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