Nach den Anschlägen in Paris: Aus der Mitte der Gesellschaft

Der Aktivist Sissoko und der rechtsnationale Politiker Guiniot haben nicht viel gemein. Wie wirken sich die Anschläge auf sie aus?

Menschen in Paris

Menschen verschiedener Nationalitäten und Religionen trauern in Paris. Foto: Arne Dedert / dpa

PARIS taz | Es ist früher Abend, die beleuchteten Auslagen der kleinen Lebensmittelgeschäfte im dritten Arrondissement von Paris machen Appetit auf einen gedeckten Tisch im Familienkreis. Die Menschen streben mit Einkaufstüten oder einem Baguette unter dem Arm nach Hause und zur Metro.

Die Stände in der Markthalle des Marché des Enfants Rouges in der Rue de Bretagne haben bereits geschlossen. Es ist die Stunde des Aufräumens und des Ausfegens, die Zeit, in der Anzoumame Sissoko aus dem Vorort Cergy nach Paris reinfährt, um dort seinem zweiten Job als Hausmeister nachzugehen. „Diese Terroristen lassen sie rein, und auf uns machen sie Jagd“, sagt er bitter und drückt damit die Stimmung vieler Einwanderer aus.

Sissoko stammt aus Mali und lebt seit 22 Jahren in Frankreich, davon 13 Jahre illegal. Er besitzt die französische Staatsbürgerschaft, arbeitet für die Stadt Paris. Er ist Flüchtlingsaktivist geblieben und Ansprechsprecher für die „Coordination 75 des Sans-Papiers“ – die 75 steht für die Stadt Paris. Die Bewegung der Sans-Papiers, Menschen ohne Papiere, kämpft für das Bleiberecht von Migranten.

Noch im Juni hatten mehrere Hundert Sans-Papiers nahe der Porte de la Chapelle ihre Zelte aufgeschlagen, bis sie vertrieben wurden. Bis vor Kurzem kampierte eine andere Gruppe auf der Place de la der République. Am Morgen des 13. November sind sie geräumt worden, berichtet Sissoko. Jetzt füllen Blumen, Kerzen, Menschen den Platz, die der 130 Opfer der Attentate am Abend des 13. November gedenken.

Anzoumame Sissoko

„Diese Terroristen lassen sie rein, und auf uns machen sie Jagd.“

Die Sans-Papiers sind autonom organisiert. „Die Franzosen mögen das nicht besonders“, meint Sissoko. „Wir reden nicht so wie sie.“ Sissoko zieht einen Stuhl heran, neben den heruntergelassenen Rollläden eines Marktstands. Seine 51 Jahre sieht man ihm nicht an. Er spricht strikt, klar, fast streng.

„Die Ereignisse vom 13. November verschlechtern die Situation der Flüchtlinge. Es wird mehr Kontrollen und schwerer zu überwindende Grenzen geben.“ Während früher Menschen aus dem Sudan, Eritrea und Somalia nach Frankreich gekommen seien, sind es nun Syrer und Afghanen. Manche ließen ihre Ausweise einfach verschwinden, meint er, um als Kriegsflüchtlinge einen Asylantrag stellen zu können. „Die anderen werden als Wirtschaftsflüchtlinge abgestempelt“, sagt Sissoko. „Wir lehnen diese Unterscheidung ab. Es sterben dreimal so viel Menschen an Hunger wie an Krieg.“

Frankreich wird sich noch mehr verschanzen

Weniger als ein Viertel der Antragsteller bekommen Asyl in Frankreich, erklärt Michel Tubiana, Ehrenpräsident der Französischen Liga für Menschenrechte. Er geht davon aus, dass „die Zahl steigen wird“. 22.000 Asylanträge wurden in den ersten vier Monaten dieses Jahres gestellt, 2014 waren es insgesamt 65.000. Tubiana ist ein bekannter Anwalt, kurze graue Haare, grauer Bart, rosa Hemd und eine imposante Figur, die hinter einen riesigen Schreibtisch in einem kleinen und vollgestopften Büro gezwängt wurde. Er empfängt im Sitzen, raucht, zwei Zigaretten in einer halben Stunde. Die Tür zu seiner Sekretärin bleibt offen.

Tubiana teilt Sissokos Beobachtungen und Sorge. „Es besteht die Gefahr, dass das Asylrecht die Situation der Immigranten erschwert.“ 24.000 Flüchtlinge soll Frankreich laut EU über zwei Jahre verteilt aufnehmen. „Das wird nicht reichen“, meint Tubiana. Obwohl viele Syrer gar nicht nach Frankreich wollten. Warum nicht? Frankreich liegt nicht auf der Route nach Deutschland und Skandinavien, die Aufnahmebereitschaft in Frankreich sei nicht sehr hoch, und mit den Attentaten werde sich Frankreich noch mehr verschanzen. „Die vietnamesischen Boat People hat man damals en bloc genommen“, sagt er, jetzt täten sich die Franzosen schwer. „Es gibt freiwillige Helfer, aber keine Willkommenskultur.“

Michel Guiniot

„Wir haben es kommen sehen – stoppt die Einwanderung.“

Im Büro von Michel Guiniot in Noyon hängt ein Plakat, betitelt „Schluss mit Schengen!“ Es zeigt Turnschuhe, die auf blau-weiß-rot gefärbten Boden treten. „Stopper l’immigration massive“, steht darunter – Stoppt die Masseneinwanderung. „Das Plakat hing schon vorher“, sagt Guiniot stolz und meint: vor den Attentaten. Wir, also er und seine Partei, der rechtspopulistische Front National, „haben es kommen sehen“.

Fünf große Parteifahnen, mit der roten und blauen Flamme, lehnen an der Bürowand – es regnet, außerdem ist der Wahlkampf für die im Dezember anstehenden Regionalwahlen aus Pietätsgründen unterbrochen. An einer anderen Wand steht ein Plakat, das ihn, Guiniot, zeigt, daneben eins, auf dem die Hoffnungsträgerin seiner Region und der Partei, Marine Le Pen, abgebildet ist. Laut Umfragen könnte sie neue Regionalpräsidentin werden. „Das ist nur der Apéritif für die Präsidentschaftswahlen 2017“, freut sich ihr Vertrauter.

Der Herr vom Frant National

Michel Guiniot, 61 Jahre alt, bekleidet viele Ämter im Front National: Er sitzt im Stadtrat, leitet seine Fraktion im Regionalparlament der gerade mit der Region Nord/Pas-du-Calais fusionierten Picardie, und er gehört dem Parteivorstand an. Guiniot hat alle großen Wahlkampagnen seiner Partei mit gemanagt, er ist ein Militant, ein Aktivist der frühen Stunde. Sein Fischgeschäft im 13.000 Einwohner zählenden Noyon, hundert Kilometer nördlich von Paris, hat er für die Politik aufgegeben. „Ich habe den Niedergang der Stadt erlebt“, sagt er. Geschäfte haben geschlossen, das Militär ist abgezogen, die Reifenfabrik Continental dicht.

„Bei uns sind alle Probleme Frankreichs konzentriert“, erklärt Guiniot den Erfolg seiner Partei in der Region. „Arbeitslosigkeit und Ausländeranteil über dem Durchschnitt, hohe Kriminalitätsrate, Standortverlagerung der Betriebe, Niedergang der Landwirtschaft.“ Es fehle, sagt Guiniot, „eine Vision der Menschen, die uns regieren“ – egal ob sie der PS von François Hollande oder der konservativen UMP von Nicolas Sarkozy angehören, die Politikerkaste – „alles bloß Honoratioren, alles Funktionäre“.

Am frühen Morgen hat Michel Guiniot Flugblätter am Bahnhof verteilt, zum Mittagessen lädt er in den Buffalo Grill am Ortsrand. Gleich um die Ecke liegt das Ibis-Hotel, in dem der sozialistische Bürgermeister syrische Flüchtlinge unterbringt. Guiniot sieht die „Libanisierung der Verhältnisse“ eingeleitet. Ob Frankreich kein Land der Gastfreundschaft ist? Die Einwanderung heute sei viel massiver als früher und stoße an religiös-kulturelle Grenzen. Die Zahl der Moscheen – exponentiell gestiegen. Die Flüchtlinge – Sozialhilfeempfänger. „Viele junge Männer mit muskulösen Oberarmen“, meint Guiniot. „Sie haben Handy, Zigaretten. Ich weiß, was das kostet. Meine Mutter hat weniger Rente.“

Wie findet er Merkel? „Europa folgt ihr“, sagt er vorsichtig. „Die französischen Politiker sind schwach. Man kann Europa nicht leugnen, unsere Region liegt mittendrin. Aber die EU soll uns nicht vorschreiben, wir sollen 20 Millionen Flüchtlinge aufnehmen.“ Die Freizügigkeit und das Schengen-Abkommen der EU habe die Terroristen frei hin- und herreisen lassen. Der Ausnahmezustand, die neuen Sicherheitsgesetze – zu spät, findet Monsieur Guiniot.

Die Regierung nutzt die Situation aus

„Die persönlichen Freiheiten werden geschwächt“, sagt dagegen Michel Tubiana, der Anwalt und Menschrechtsaktivist. Er fürchtet, es könne noch schlimmer werden. „Die Regierung nutzt die Situation, um die Gesetze zu verschärfen.“ Die ersten Umfragen nach den Attentaten bestätigen, ein Großteil der Franzosen findet die neuen Gesetze gerechtfertigt.

„Man darf sich nicht überrumpeln lassen“, fordert Tubiana. An der Wand hinter ihm hängt ein Ölgemälde des Surrealisten und Widerstandskämpfers Fred Zeller – wie Tubiana ein Extrotzkist. Vor einer roten Ziegelwand stehen mit dem Rücken zum Betrachter traurige kleine Männer mit hängenden Schultern, die in zeitlosen grauen Anzügen stecken. „Vive la commune“ steht unten auf dem Bild; an der Mur des Fédérés wurden 1871 während der Pariser Kommune die letzten Aufständischen erschossen.

Im Treppenhaus des unscheinbaren Wohnhauses, in dem Michel Guiniot die Geschäfte des Front National managt, hängt ein gerahmtes Foto. Es zeigt ihn bei einer Kundgebung, gemeinsam mit zwei weiteren Männern. Der eine war bis zum letzten Jahr UMP-Mitglied, der andere lange Zeit in der Kommunistischen Partei. Die kommunistische PCF war in der Picardie früher besonders stark. Ihr Erbe hat der Front National angetreten.

Anzoumame Sissoko koordiniert neben seiner Arbeit die Aktionen der Sans-Papiers. Seit dem 2. Juni seien 3.000 neue Sans-Papiers in der Region Paris eingetroffen. Viele landen auf der Straße. „Wir helfen ihnen, die ersten sechs Monate zu überstehen“, sagt er, „Essen zu besorgen, selbst zu kochen. Wir kennen die rechtliche Situation – aus eigenem Erleben. Wir stellen strenge Regeln auf. Wer streitet, fliegt raus.“

Sissoko stammt aus einem Dorf in Westmali, er war das einzige von sieben Kindern, das zur Schule gehen durfte. Der ausbleibende Regen vernichtete die Ernten, er wurde zum Geldverdienen ins Ausland geschickt. Seine heranwachsenden Kinder zeigten nur noch mäßiges Interesse an den Aktionen der Sans-Papiers, erzählt er.

Jeden Freitag um 14.30 Uhr versammeln sich die 200 Aktiven der Sans-Papiers auf der Place de la République. In ein paar Wochen werden die Banderolen verschwunden, die Blumen für die Opfer des 13. November verwelkt sein. Und Marine Le Pen wird für die Präsidentschaftswahlen 2017 rüsten.

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