„Trauer kann gemeinschaftsstiftend sein“

Erinnerung Ursprünglich zum Gedenken an die Opfer des Ersten Weltkriegs eingeführt, haben heute nur noch wenig Menschen einen Bezug zum Volkstrauertag. Dennoch gibt es ein Bedürfnis nach kollektiver Trauer, sagt Kulturwissenschaftlerin Inga Schaub

Nur wenige BerlinerInnen gehen am Volkstrauertag noch auf den Friedhof, um um ihre Angehörigen zu trauern Foto: Theo Heimann

von Hannah Wagner

taz: Frau Schaub, diesen Sonntag ist Volkstrauertag: Gehen viele BerlinerInnen an diesem Tag noch auf die Friedhöfe?

Inga Schaub: Nein, das Gefühl habe ich nicht. Noch vor zwanzig Jahren war das anders. Das hängt vor allem damit zusammen, dass es immer weniger Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs gibt, die um direkte Angehörige trauern.

Das Ende des Zweiten Weltkriegs ist auch schon über siebzig Jahre her. Ist ein staatlicher Volkstrauertag da überhaupt noch zeitgemäß?

Für viele Menschen nicht mehr. Das liegt wohl daran, dass der Volkstrauertag ursprünglich als Gedenktag für die getöteten Soldaten des Ersten Weltkriegs ins Leben gerufen wurde, aber die meisten Menschen, die heute in Deutschland leben, selbst keinen Krieg erlebt haben. Andererseits gibt es auch in unserer Gesellschaft noch ein Bedürfnis nach kollektiver Trauer, zum Beispiel nach dem Tod einer prominenten Person. Wobei man dieses Phänomen nicht nur beim Verlust eines Menschen beobachten kann: Hier in Berlin etwa hat der Tod des Eisbären Knut vor vier Jahren eine Welle kollektiver Trauer ausgelöst. Trauer kann eine sehr gemeinschaftsstiftende Wirkung haben.

Trauern wir denn heute nach wie vor um die Gefallenen der beiden Weltkriege?

Nicht nur – der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge gedenkt an diesem Tag aller Opfer von Kriegs- und Gewaltherrschaft. Das schließt neben den Opfern der beiden Weltkriege also auch die getöteten Menschen heutiger Kriege mit ein.

Im Bundestag wird der Opfern jedes Jahr mit einer Gedenkstunde gedacht, außerdem gibt es eine Kranzniederlegung in der Neuen Wache. Fühlen Sie sich von diesen offiziellen Veran­staltungen angesprochen?

Geschichte: Der „Volkstrauertag“ wurde 1922 auf Vorschlag des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge eingeführt, um der Gefallenen des Ersten Weltkriegs zu gedenken. Die Nazis benannten ihn in „Heldengedenktag“ um und rückten damit ihre kriegstreiberischen Absichten in den Vordergrund. Seit seiner Wiedereinführung 1952 findet der Volkstrauertag immer am Sonntag zwei Wochen vor dem ersten Advent statt. Heute wird aller Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft gedacht.

Veranstaltungen am Sonntag: Wie in jedem Jahr veranstaltet der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge eine Gedenkstunde im Bundestag. Sie beginnt um 13.30 Uhr und wird live in der ARD übertragen. Außerdem wird der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft mit einer Kranzniederlegung in der Neuen Wache gedacht. Kreisverbände des Volksbunds veranstalten Gedenkfeiern auf verschiedenen Berliner Friedhöfen.

Gedenken online: Auf der Web­seite der Kriegsgräberfürsorge können Angehörige von Kriegsopfern einen Stern am virtuellen Himmel erstrahlen lassen. www.lichter-der-ewigkeit.de

Nicht besonders, für mich passt das stark militärisch geprägte Zeremoniell einfach nicht zu diesem Tag. Außerdem stört mich die ausschließlich christliche Prägung: Auf der Webseite der Kriegsgräberfürsorge etwa sehen Sie überall Kreuze. Menschen anderer Religionen und religionslose Menschen werden so nicht angesprochen. Unsere Gesellschaft verändert sich, und darauf sollte bei der Vorbereitung solcher Veranstaltungen reagiert werden.

Inwiefern?

Man sollte mehr Wert auf Interkonfessionalität legen – gerade in einer multikulturellen Stadt wie Berlin. Außerdem könnte man mehr persönliche Begegnungssituationen abseits der offiziellen Großveranstaltungen schaffen.

Hat sich unsere Trauerkultur in den letzten Jahren verändert?

Ja, die Trauer wird immer individueller. Während früher bei der Trauerbewältigung Rituale im Vordergrund standen, wollen viele Menschen sich heute nicht mehr vorschreiben lassen, wie sie zu trauern haben. Diese Individualisierung bringt aber auch Verunsicherung mit sich, viele wissen nicht mehr, wie sie mit ihrer Trauer umgehen sollen. Daher suchen sich immer mehr Menschen nach einer Verlusterfahrung profes­sio­nelle Hilfe.

Inga Schaub

Foto: Jochen Nanning

Jahrgang 1984, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität.

Am Volkstrauertag sind in Berlin sogenannte öffentliche Lustbarkeiten verboten, also zum Beispiel öffentliche Sport- und Tanzveranstaltungen oder Flohmärkte. Finden Sie solch ein stilles Gedenken angemessen?

Ich denke schon. Momente der Trauer zeichnen sich ja dadurch aus, dass man nicht mehr so weitermachen kann wie bisher, dass plötzlich alles stillsteht. Da empfinde ich es als durchaus angemessen, für einige Stunden aus dem alltäglichen Ablauf herauszutreten.

Wie sollte man den Volkstrauertag 2015 begehen?

Nutzen Sie den Tag, um mit Mitmenschen ins Gespräch zu kommen und sich über persönliche Verlusterfahrungen auszutauschen: Welche Unterschiede lassen sich beim Umgang mit Trauer beobachten? Wo sind Gemeinsamkeiten? Das sind Themen, über die man sonst selten spricht, weil sie sehr schmerzhaft sind.