Kannte Jean-Luc Godard und Vic Godard, war aber niemals auf Parteilinie: Lizzy Mercier Descloux, 1978 Foto: Michel Esteban

Die Gazelle ist eine Kratzbürste

POPVISIONÄRIN Lizzy Mercier Descloux schreibt bereits 1976 über die Punkrebellion. Mit 19 geht die französische Künstlerin nach New York, wohnt bei Patti Smith und entdeckt No Wave, Funk und Disco für sich. Nun werden ihre tollen Alben endlich wiederveröffentlicht

VON ELISE GRATON

„Sie hatte nie wirklich ein eigenes Zuhause“, sagt Filmregisseurin Kim Massee über ihre Freundin Lizzy Mercier Descloux. „Wenn sie in meiner Wohnung unterkam und ich dann nach Hause zurückkehrte, fand ich nicht mehr mein Zuhause vor, sondern das von Lizzy. Sie machte alles zu ihrem Universum.“

Massee spricht ihrer Freundin ein großes Lob aus: „Lizzy war einzigartig, stets unterwegs und nie da, wo man sie erwartete.“ Lizzy Mercier Des­cloux hatte ein gutes Gespür für den richtigen Ort, für den Moment, in dem Musikgeschichte geschrieben wurde. Allen voran mischte die Französin bei der Punk- und No-Wave-Szene in New York Ende der Siebziger mit. Anfang der 80er vermischte sie weit vor allen anderen Pop mit Folk aus Südafrika. Dennoch, Lizzy Mercier Des­cloux als Figur und als musikalische Pionierin, beide sind heute weitgehend vergessen. Auch in ihrer Heimat ruft ihr Name höchstens so etwas wie: „So ein aufgedrehtes Mädchen, wie hieß der Song noch mal?“ in Erinnerung. Selbst ihr großer Hit, „Mais où sont passées les gazelles?“ (Wo sind die Gazellen geblieben), droht allmählich, in Vergessenheit zu geraten.

Partners in Crime

Umso wichtiger, dass das auf die Wiederentdeckung von vergessenen Künstlern spezialisierte US-Label Light In The Attic nach und nach alle Werke von Lizzy Mercier Descloux wieder zugänglich macht. Michel Esteban, bei dessen Label ZE Records Descloux’ einst unter Vertrag stand, bestätigt den Deal: „Das Projekt startete ich 2014 – zehn Jahre nach Lizzys Tod.“ Als Mercier Descloux 1975 mit gerade 19 Jahren zum ersten Mal nach New York kam, schwebte ihr noch keine Popkarriere vor. Damals waren Esteban und sie ein Paar, dann „Partners In Crime“, wie er sagt. So hat er auch die Ausstellung getauft, die demnächst in Paris und New York zu sehen sein wird und später auch in Köln.

Sie wird Fotos zeigen, die Des­cloux und Esteban zunächst als ReporterInnen für ihr eigens gegründetes Magazin Rock News schossen, das der New Yorker Punk-Avantgarde gewidmet war. Damit füllte das Paar eine Lücke in der französischen Presselandschaft der Siebziger: Außer ihnen hatte niemand die Punkrebellion bemerkt, die dabei war, die saturierte Popwelt vom Kopf auf die Füße zu stellen. So berichteten sie über die ersten Konzerte von Patti Smith, Television, The Ramones, Talking Heads und besuchten die Sex Pistols zu Hause in London. Rock News hielt knapp ein halbes Jahr durch: „Damals wurde man von bahnbrechenden neuen Bands und Stilen förmlich überrollt, somit hatte sich das Thema für uns bald erledigt“, erinnert sich Esteban. „Und jeden Monat ein Magazin zu machen, das ist auf Dauer doch anstrengend. Unsere künstlerische Freiheit war uns wichtiger.“ Sie packten ihre Koffer und zogen nach New York.

1977 brachte Descloux dann mit Hilfe von Esteban ein Buch heraus, dessen 3.000 Exemplare schnell verkauft waren und das nun im Eigenverlag ebenfalls wiederveröffentlicht werden soll. „Desiderata“ besteht aus Gedichten von Mercier Descloux, einem Vorwort und Zeichnungen ihrer damaligen Mitbewohnerin Patti Smith, Collagen und Texten von Richard Hell, auch Punk der ersten Stunde, heute ein berühmter Schriftsteller und damals Des­cloux’ Geliebter. Es war Liebe auf den ersten Blick, behauptet Hell in seiner Autobiografie „I Dreamed I Was A Very Clean Tramp“.

Mercier Descloux war die Musik wichtiger. „Patti spornte uns die ganze Zeit an, auch eine Band zu gründen“, erklärt Esteban. „Das machte man damals so.“ Sie kauften Gitarren, probten. Doch für ihn war das nichts, gesteht Esteban. Er gründete stattdessen mit dem Briten Michael Zilkha ZE Records. Lizzy Mercier Descloux aber war von der Musik besessen.

Lizzy Mercier Des­cloux hatte Gespür für den Moment, in dem Musikgeschichte geschrieben wurde

Als „Rosa Yemen“ – Rosa wie Luxemburg, Yemen wie Ar­thur Rimbauds zweite Heimat – trat sie mit DJ Barnes, Estebans Bruder, in New Yorker Clubs auf. Eine Liveaufnahme führte zu einer ersten LP bei ZE. Die sechs experimentellen Gitarrensongs, begleitet von Descloux’ deklamierten Parolen, stehen in totalem Kontrast zu ihrem Debütalbum „Press Color“, einem glühenden Mix aus Punk und Funk, No Wave und Disco. „I’ll never have a golden throat“ – sprich „Ich werde nie gut singen“ – singt sie im Song „No Golden Throat“. In „Wawa“ packt sie anhand beider Titelsilben den getakteten Bass bei den Hörnern, während sie den weit lasziveren „Torso Corso“ mit kecker Nonchalance dominiert.

Voll zur Geltung kommt Des­cloux’ eigensinniger Gesangsstil auf ihrem tollen zweiten Album, „Mambo Nassau“, das auf Einladung von Island-Records-Eigner Chris Blackwell in seinen Compass Point Studios auf den Bahamas produziert wurde. Zeitgleich nahm dort auch Grace Jones ihr Opus magnum „Nightclubbing“ auf, und so traf Lizzy Mercier Descloux in Nassau auf eine weitere experimentierfreudige Musikfamilie, die irgendwo zwischen Funk, Punk, Disco und Reggae werkelte – ein neues Zuhause ihrer wachsenden Leidenschaft für afrikanische und karibische Klänge.

Koproduzent Wally Badarou erinnert sich: „Der Groove war Lizzys Fokus, sie vertrat die Idee, Texte und Stimmen würden sich aus ihm generieren.“ Zunächst irritiert von ihrem scheinbaren Dilettantismus, erkannte er bald: „Sie überließ der Improvisation einen grundlegenden Platz, wobei sie ganz genau wusste, wonach sie suchte und was sie konsequenter Weise nicht wollte.“

Vor verspielt summendem Chor und dubbigen Samples bellt, knurrt und kreischt sie selbstbewusst ihre onomatopoetischen Erfindungen, deren Sinn für die Hörer nicht eindeutig zu verstehen ist. Ähnlich wie „Press Color“ erreichte auch das funkige „Mambo Nassau“ nicht das ganz große Publikum. „Der Vertrieb lief katastrophal“, erklärt Esteban. „Wichtig war für Lizzy nur ihr eigenes Ding, Popularität oder Reichtum interessierte sie nicht die Bohne.“ Mercier Descloux schwirrte bereits die nächste fixe Idee vor: eine Kollaboration mit südafrikanischen Mbaqanga-Musikern – dem Apartheidregime und dem kulturellen Boykott der UNO gegen Südafrika zum Trotz. Diesen in den Sechzigern in Soweto entstandene Musikstil aus Marabi-, Kwela Jazz und traditionellen Zulu-Elementen, den Descloux durch das Label Ocora Radio France für sich entdeckte, wollte sie nun mit französischem Pop kreuzen.

Federn im Haar

In Frankreich heißt es immer: „So ein auf­gedrehtes Mädchen, wie geht ihr großer Hit noch mal?“

Für die afrikanischen Musiker machten ihre Ideen zunächst gar keinen Sinn. Was sollte man von dieser Frau mit Federn im Haar überhaupt halten? „Weiße Frauen in Südafrika pflegten dort eher den Stil von Lady Di“, erinnert sich Esteban an ihre gemeinsame Reise 1984. „Die erste Begegnung fühlte sich an, als würden Igel aufeinandertreffen. Sobald den Musikern aber klar wurde, dass wir durchgeknallt sind und es mit der Zusammenarbeit ernst meinen, ging alles leicht.” Mit „Zulu Rock” legte Descloux den Grundstein zum Worldbeat – zwei Jahre bevor Paul Simons „Graceland“ zum Welterfolg wurde. Des­cloux’ drittes Opus, das sich ein Stück fröhlicher, leichter, ja fast besonnener als seine Vorgänger gibt, ließ Frankreich erstmals aufhorchen. Der Song „Mais où sont passées les gazelles“ lief ständig im Radio, „Zulu Rock“ gewann den „Bus d’acier“-Preis für das beste Rockalbum. Doch die geplante Tour sowie das anschließende Projekt, Mbaqanga mit Cajun-Musik in New Or­leans zu verschmelzen, war zum Scheitern verurteilt: Die Apartheidregierung ließ die Musiker nicht ausreisen. Vom Medienrummel überdrüssig geworden, flüchtete Descloux eine Weile nach Asien.

Zwei relativ uninspirierte Alben folgten: „One For The Soul“ und „Suspense“ im Jahr 1988 mit dem Trompeter Chet Baker, der wegen seiner Heroinsucht nur noch ein Schatten seiner selbst war, floppten. Descloux zog sich zurück, widmete sich fortan in aller Stille der Literatur und Malerei.

Retrospektiv hatte Lizzy Mercier Descloux mit der Musikindustrie Glück und Pech zugleich. Immerhin durfte sie experimentieren, konnte ungehindert reisen, obwohl sie keine Hitlieferantin war. Ein Schicksal, dass sie mit anderen tollen Künstlern teilt. Nur dass Mercier Des­cloux’ Werk sehr bald in Vergessenheit geraten würde, bleibt ihren Weggefährten bis heute ein Rätsel, denn die Französin war eine genuine Popvisionärin und ihre Musik ist gut gealtert. „Sie ließ sich nicht korrumpieren“, glaubt Kim Massee. „Das Popbiz widerte sie an. Sie wollte da nicht mitmachen, und sie konnte auch nicht.“

2003 wurde bei Descloux Krebs diagnostiziert. Massee erinnert sich, wie Lizzy ihr in einem Pariser Café die schlimme Nachricht übermittelte. „Trotzdem haben wir uns schiefgelacht. Das Leben mit ihr war ein Fest.“ Sie blieb nur kurz im Krankenhaus, denn sie wollte dort nicht sterben. „Aber ihr Krankenzimmer war ganz besonders: Nach ein paar Tagen hatte sie alles umdekoriert. Es war wie Ali Babas Höhle.“

Lizzy Mercier Descloux: „Press Color“ (Light In The Attic/Cargo)