Kommentar Literaturnobelpreis: Literarisch und politisch aufregend

Man hat das schöne Gefühl, dass die Nobelpreisjury die Bandbreite literarischer Möglichkeiten im Blick hat. Und vor allem: dass in ihr Leser sitzen.

Bücher in einem Regal

Endlich werden vom Nobelpreiskomitee wieder Bücher gewürdigt. Foto: dpa

Swetlana Alexijewitsch ist eine tolle Wahl für den Literaturnobelpreis. Ja, ja, werden jetzt viele denken. Schon okay, eine Frau zu nehmen. Auch okay, jemanden zu nehmen, die in ihrer Heimat Weißrussland als oppositionelle Stimme gilt und mit der man auch gleich noch Wladimir Putin eins auswischen kann. Aber eigentlich, werden sie denken, ist das doch bestimmt eher eine politische als eine literarische Entscheidung.

Nein, nein, muss man ihnen entgegenrufen. Wer diese Autorin nur auf die politische Situation reduziert, dem entgeht etwas. Ihre Bücher bieten eine ganz eigene Erfahrung. Wer sie liest, wird das 20. Jahrhundert und die heutige Situation im ehemaligen Reich der Sowjetunion besser verstehen. Und zugleich sind das auch literarisch aufregende Bücher.

Seit über drei Jahrzehnten interviewt Swetlana Alexijewitsch Menschen, Tausende müsse es inzwischen sein, mit deren Hilfe sie „durch menschliche Welten, durch unser Leben“ reist, wie es in ihrem letzten Buch „Secondhand-Zeit“ heißt.

An einer Stelle dieses vielstimmigen Dokumentarromans geht es um den Putschversuch in Moskau, in dem Generäle 1991 die Reformen zurückdrehen wollten. Swetlana Alexijewitsch zitiert die Freude einer Frau die nach dem Scheitern des Putsches Kekse verteilt: „Wer Kekse will … der will leben!“

Swetlana Alexijewitsch

„Wer Kekse will … der will leben!“

So etwas kann Literatur: in solchen alltäglichen Bildern das Große, Ganze, die Aufbruchstimmung wiedergeben. Genauso dringlich fängt Swetlana Alexijewitsch auch Enttäuschung, Trauer, Verwirrung, Halsstarrigkeit, Verzweiflung ein. Wir sind hier!, unsere Gefühle sind real!, um diesen Kern kreisen diese Bücher. Weiter weg von Propaganda oder Gegenpropaganda kann man nicht sein.

Die Jurorinnen und Juroren in Stockholm machen derzeit einen guten Job. Im vergangenen Jahr haben sie die flanierende Erinnerungsprosa Patrick Modianos ausgezeichnet. Nun also eine großartige Dokumentarschriftstellerin, die schreibend durch den Kosmos menschlicher Stimmen nach dem Ende des Sozialismus reist.

Man hat das schöne Gefühl, dass die Nobelpreisjury die ganze Bandbreite literarischer Möglichkeiten im Blick hat. Und vor allem: dass in ihr Leser sitzen.

An alle diejenigen, die es noch nicht getan haben: Hier ist eine wichtige Autorin zu entdecken. Lest Swetlana Alexijewitsch!

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