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Der Mann ohne Mauer

EINHEIT Seit 1986 betreibt Bildhauer Peter Unsicker seine „Wall Street Gallery“ in der Zimmerstraße direkt am ehemaligen Mauerstreifen. War die Betongrenze früher Teil seiner künstlerischen Aktionen, fehlt sie ihm heute mitunter ein bisschen

von Adrian Schulz

„Jankie! Jankie! Amärikka! Amärikka!“, johlen die als Grenzsoldaten uniformierten Schausteller am Checkpoint Charlie in die Menschenmengen. Wer Russentschapka, Mauerstücke, Modell-Trabis in jedwedem Zustand und „I Love Berlin“-Artikel sucht, ist hier genau richtig. Scharenweise schwärmen Touristen umher, in der Nähe befinden sich Potsdamer Platz, Jüdisches Museum, Martin-Gropius-Bau und das Dokumentationszentrum Topographie des Terrors. Unweit dieser Sehenswürdigkeiten liegt auch die Zimmerstraße. Bis zu ihrem Fall verlief hier mitten auf der Straße die Berliner Mauer. Ost- und Westberliner konnten sich gegenseitig in die Fenster gucken. „Ohne die Mauer wäre die Zimmerstraße heute nicht so lebendig und von Touristen durchströmt“, meint Bildhauer Peter Unsicker, Inhaber der an der Straße gelegenen „Wall Street Gallery“. Der 68-Jährige betreibt sie seit 1986.

Was hier ist Kunst?

„Geöffnet nach Westen, nach Osten und nach Vereinbarung“, steht über dem Eingang, Räucherstäbchenduft liegt in der Luft. Auf den ersten Blick passt dies zu den gagatouristischen Läden in der Nachbarschaft und hat was von gewollter Unordnung. Oder ist das der morbide Charme einer antiken Rumpelkammer – diese Atelierwohnung voller Behänge, Teppiche, Tücher, Kerzenständer, Skulpturen und Köpfe? Was für Hippies oder was für Hipster? Was ist hier Kunst? Was kann weg?

Bis zur Wiedervereinigung lag die Galerie nur wenige Meter von der innerdeutschen Grenze entfernt. Das Staatsgebiet der DDR ging offiziell bis vor die Türschwelle, aber der schmale Streifen zwischen der Kreuzberger Galerie im Westen und der Mauer auf der Mitte der Straße konnte de facto nur von Westdeutschen betreten werden – und von DDR-Grenzern.

„Eigentlich hatte ich nicht vor, in diese Lage zu ziehen“, sagt Unsicker heute, „ich brauchte ein ebenerdiges Atelier. Aber schnell wurde mir klar: Ich kann hier nicht so tun, als gäbe es die Mauer nicht.“ Unsicker wollte Stellung beziehen, also eröffnete er seine Galerie, ausgerechnet am 9. November. Mit der Mauer machte er fortan Kunst: Er verspiegelte sie mit Scherben, beklebte sie mit einer Maske und einem Wundpflaster. Als die Grenzer die abrissen und vor seine Tür warfen, goss er aus der Form gleich zwei Gipsmasken nach. „Als sie die wieder abgerissen haben, habe ich vier, acht, 16 gemacht – wie die Hydra, die sich immer verdoppelt. Die Aktionen haben sich immer aus den vorhergehenden entwickelt.“

Bei Erich Honecker stellt er einen „Antrag auf Gestaltungsfreiheit“ für die 36 Quadratmeter Mauer vor seinem Fenster und gibt diesen am Checkpoint ab. Einige Tage später holen ihn zwei Stasi-Offiziere ab und fahren ihn nach Ostberlin: „Die wollten mich rüberziehen“, sagt Unsicker. „Sie sagten: ‚Sie sind für den Frieden, wir sind für den Frieden. Wir müssen zusammenarbeiten!‘ Ich stieg aus und antwortete: ‚Nein, tut mir leid, ohne mich.‘“

Nach der Wende schuf Unsicker „Mauertassen“, in denen durchlässige Minimauern durch Unterströmung Kaffee und Sahne automatisch mischen. Aus Trabi-Motorblöcken und BRD-Verkehrsschildern goss er einen „Torso Germania“ und aus altem Telefon-Kupferdraht zwölf Apostelköpfe. Und während des Berliner Bankenskandals um die Jahrtausendwende vermaß er in Performances mit dem „Hand-zu-Fuß-Maßstab“ Ministerien und Banken.

„Plakatives bleibt haften“

Sind seine Aktionen nicht zu plakativ? Unsicker wird enthusiastisch: „Das Plakative bleibt haften. Kunst muss politisch sein, muss raus aus den Palästen, aus dem Elfenbeinturm, auf die Straße. Da findet man die besten Kritiker.“

Deshalb steht die Tür zur Galerie meist offen. Arbeiten könne der Bildhauer jedoch erst, wenn es draußen leerer wird – dann aber auch mal bis drei, vier oder fünf Uhr nachts. Im Jahresdurchschnitt kämen wohl so etwa zehn Besucher pro Tag in die Galerie; im Sommer mehr – auch wenn seine Partnerin Claudia Croon bei offener Tür Klavier spiele.

„Geöffnet nach Westen, Osten und nach Vereinbarung“, steht über dem Eingang

Mieterhöhungen und die Gentrifizierung Berlins, von der Kreuzberg stark betroffen ist, sind für ihn zwar „kriminell“, aber notwendige Folge des Marktes, der auch die Kunst zu sehr beeinflusse. Dem verweigere er sich: Er sei „kein Konsument von irgendwelchen wahnsinnigen Sachen wie Smart­phones“, sagt er lächelnd, mit Blick auf das Gerät des Reporters. Und um Ausstellungen kümmere er sich heute nicht mehr. Auch sein Laden wechselte den Besitzer, zuletzt 2012. „Ich weiß von vielen Ostberlinern, die nach der Wende clever waren und billig Häuser kauften. Die Schwäbisierung Prenzlbergs – es wird auch wieder anders“, sagt Unsicker.

1968 sei er bei den Studentenprotesten dabei gewesen. Unsicker holt jetzt aus: „Heute gibt es diesen Konflikt: Viele Alt-Kreuzberger sind älter geworden und mögen keinen Lärm mehr, wollen aber auch nicht so sein wie die Alten damals, 1968. Jetzt gibt es Lofts und so was – viele der früher besetzten Häuser sind aufs Schönste saniert und privatisiert. Damals waren die Mieten günstig, hier lebten Randexistenzen – Rechte, Linke, Säufer … Westberliner halt.“ Und dennoch sei die Gesellschaft heute viel liberaler: „Irgendwie ist jetzt jeder 68er.“

Ewiger Nostalgiker

In gewisser Weise ist Unsicker ein ewiger Nostalgiker, auf die Mauer und seine Rolle als Mauerkünstler festgenagelt. Denn die „Mauern um Europa“ oder die „in den Köpfen“, die er erwähnt, befinden sich eben nicht direkt vor seinem Schaufenster. Sie fehle ihm ein wenig, räumt er dann auch ein: „Manchmal finde ich, dass das Denken tiefer, weitreichender war, weil die Belastung größer war – die unbefriedigten Bedürfnisse, im Osten das Jagen nach einem Trabi-Ersatzteil …“ Aber dennoch habe er keinen Grund gehabt, wegzuziehen. Finanzieren könne er sich mit dem Verkauf seiner Arbeiten und mit Auftragswerken. Auch sähen Leute aus aller Welt seine Werke. „Australier, Amerikaner, Skandinavier, Holländer“, zählt er auf. „Russen kommen auch, aber wenige, und Chinesen, sowieso – Chinesen, fantastisch!“

Die meisten kämen wegen der Kunst im Schaufenster und wüssten oft wenig über die deutsche Teilung. „Auch viele Westberliner sind desinformiert“, sagt Unsicker. „Und die Russen, zum Beispiel: Die wollen gar nichts wissen. Aber ich bin ja auch kein Geschichtsprofessor.“ Einen anderen Zugang zur deutschen Geschichte bietet ein Besuch in seiner Galerie dennoch allemal.

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