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Auf der Durchreise

Asyl Auch am Dienstag kommen rund 450 Flüchtlinge mit Sonderzügen aus Ungarnin der Stadt an. Doch viele wollen weiter, zu Verwandten. Hier hält sie niemand auf

VONS. Memarnia, U. Schleiermacher und S. Alberti

Etwa 20 Ehrenamtliche haben sich vor der Jahn-Sporthalle in Neukölln aufgestellt. Mit Luftballons, Seifenblasen, „Wel­come“-Rufen begrüßen sie am Dienstagmittag 150 Flüchtlinge. Mit dem Zug sind sie aus Ungarn über München in Schönefeld angekommen, von dort per Bus weitergefahren. Viele von ihnen lachen und klatschen, als sie an den Ehrenamtlichen vorbei in die Halle gehen, wo Feuerwehr und Betreiberunternehmen über Nacht 150 Betten aufgebaut haben. Dort bekommen sie etwas zu trinken und können sich ausruhen.

Doch nicht alle Ankömmlinge wollen bleiben. Das Erste, wonach sie fragen, ist WLAN. Einige befürchten, hier ihre Fingerabdrücke abgeben zu müssen. Drei junge Männer interessiert vor allem, wo der nächste Bus abfährt. Einer zeigt sein Telefon, „Koblenz“ steht im Chat-Verlauf auf dem Display, da möchte er hin. Er hat zwei Telefonnummern und versucht, seinen Onkel zu erreichen. Als seine Begleiter an der Straße eine Bushaltestelle sehen, laufen sie los. Ein paar andere Flüchtlinge wollen nach Schweden, eine Familie mit zwei Kindern im Teenager-Alter möchte weiter nach Bochum.

Die übrigen jener 450 Flüchtlinge, die am Morgen in Schönefeld eintrafen, die meisten von ihnen aus Syrien, Afghanistan und Sri Lanka, kommen im Rathaus Wilmersdorf und in einer Traglufthalle in Moabit unter. Die schon am Montag aus Ungarn angekommenen rund 700 Flüchtlinge sind in Zelten auf dem Gelände der früheren Schmidt-Knobelsdorf-Kaserne in Spandau untergebracht.

Die Jahn-Sporthalle ist eine von sieben Turnhallen, die laut Senat als neue Notunterkünfte dienen sollen. Die Polizisten am Eingang sind am Dienstag unschlüssig, wen sie gehen lassen dürfen. Sie lassen schließlich alle durch. Etwa eine Stunde später haben sich 66 Flüchtlinge auf eigene Faust auf den Weg gemacht und lassen Polizei, Ehrenamtliche und Betreiber der Notunterkunft etwas ratlos zurück. Die hätten klare Reiseziele und berufliche Vorstellungen, sagt der Tamaja-Geschäftsführer Michael Elias. „Die Unterbringung hier ist ein Angebot, wir können niemanden festhalten“, sagt er, „wer will, kann weiter.“ In rechtliche Schwierigkeiten kämen die Flüchtlinge dadurch nicht, sagte eine Sprecherin der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales der taz. Die Flüchtlinge könnten sich bei jeder Polizeistelle melden und registrieren lassen. Ein rechtlicher Rahmen werde für sie erst noch erarbeitet.

Carola Scheibe-Köster, eine der Neuköllner Ehrenamtlichen, kritisierte, dass in der Halle mehrere Familien untergebracht werden sollten. Die hätten dort keine Privatsphäre, man bemühe sich darum, für die Familien eine andere Unterkunft zu finden.

Nicht alle waren gleich wieder auf dem Sprung wie in Neukölln. Die 200, die am Dienstag im früheren Wilmersdorfer Rathaus unterkamen, „bleiben alle hier“, ist sich Thomas de Vachroi, Leiter der Notunterkunft, sicher. Die Menschen, darunter viele Familien mit kleinen Kindern, „sind ganz glücklich, dass sie hier sind, wollten erst mal nur duschen und schlafen“. Das ehemalige Rathaus war Mitte August als Notunterkunft eingerichtet worden, laut Lageso sollten dort eigentlich maximal 500 Menschen untergebracht werden. Inzwischen leben dort laut Heimleiter weit über 700.

„Wir können nie­manden festhalten“

Michael Elias, Notunterkunfts- Betreiber

Regierungschef Michael Müller (SPD) ging derweil vor Journalisten davon aus, dass auch in nächster Zeit täglich rund 1.000 Flüchtlinge nach Berlin kommen werden. Vor zwei Wochen war das noch die Zahl, die binnen einer Woche die Stadt erreichte. Nach einem Senatsbeschluss sollen jene Verwaltungsmitarbeiter, die sich freiwillig zur Bewältigung der Flüchtlingswelle meldeten – bislang 250 – einen Gehaltszuschlag bekommen: Angestellte 120 Euro mehr im Monat und vollen Überstunden-Ausgleich, Beamte 250 Euro.

Der Regierungschef rief die Unternehmen seiner Stadt dazu auf, dem Beispiel des Energieversorgers Vattenfall zu folgen und ungenutzte Grundstücke oder Immobilien für eine Flüchtlingsunterkunft zur Verfügung zu stellen. Bei Vattenfall passiert das laut Müller auf einem Gelände an der Storkower Straße.

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