Der eigentlich unbetretbare Raum

DOKFILMWOCHE 2015 „Alles, was ich sagen kann, ist, dass mein Weg hierher zu lang war. Viel zu schwierig, viel zu schmerzhaft.“ Geschichten von Migranten sind auch Thema der heute beginnenden dokfilmwoche

Die Flüchtlingsunterkunft „Flotel Europa“ im Hafen von Kopenhagen Foto: dokfilmwoche

von Carolin Weidner

„Die Welt ist ein schrecklicher und doch lebenswerter Ort, das will ich zeigen“, sagte Michael Glawogger anlässlich seines Films „Megacities“, den man sich unbedingt (noch) einmal ansehen sollte. 1998 war das. Glawogger lebt nicht mehr. Gültigkeit dürfte seine Aussage aber noch immer besitzen. Nicht mehr für ihn selbst, doch möglicherweise für andere Dokumentaristen.

Neunzehn von ihnen versammelt die dritte dokfilmwoche nun im fsk Kino am Ora­nien­platz und dem Sputnik an der Hasenheide. Vom 27. August bis zum 2. September wird hier eine Kompilation von Filmen zu sehen sein, die in den letzten ein bis zwei Jahren vorrangig auf Festivals ihre Premiere hatten. Filme, bei denen oft nicht sicher ist, ob sie nach diesen Vorführungen überhaupt noch einmal auf großer Leinwand zu erwischen sind. Schon allein dafür gebührt der dokfilmwoche ein Dank. Davon abgesehen ist auch die vom peripher Verleih getroffene Auswahl hervorragend.

Da wäre zum Beispiel „Flotel Europa“ von Vladimir Tomic, der dieses Jahr im Rahmen des Berlinale-Forums lief. Tomic’ Film ist zum einen völlig inaktuell. Zum anderen sehr akut. Im Grunde ist er ein montiertes Videotagebuch. Als Tomic noch ein Kind war, Anfang der 90er Jahre, floh er mit seiner Familie aus Ju­go­sla­wien nach Dänemark. Dort, im Hafen von Kopenhagen, lag das „Flotel Europa“ vor Anker. Ein Schiff, auf dem mehr als 1.000 Flüchtlinge wohnten. Tomic’ Vater war in der Heimat verblieben, mit einer Videokamera wurden visuelle Briefe verfasst. Zeugnis jener audiovisuellen Brieftauben ist dieser Film, der das Erwachsenwerden und die Atmosphäre an Deck des riesigen Schiffs zeigt.

In dem Film vom Drogenelend am Rand von Bukarest sieht die Welt oft schrecklicher aus als lebenswert. Aber eben nicht ganz

Sprung ins Jetzt. Menschen nach der Flucht, die irgendwo untergekommen, aber nirgendwo angekommen sind – das ist ebenfalls Gegenstand von Benjamin Kahlmeyers Film „Die Unsichtbaren“. Ein Mann sagt im Film: „Alles, was ich sagen kann, ist, dass mein Weg hierher zu lang war. Viel zu schwierig, viel zu schmerzhaft. Einfach zu lang.“ Hierher, das ist die Zentrale Erstaufnahmestelle für Asylsuchende in Eisenhüttenstadt. Eine vorläufige Station. Es ist der Ort, an dem Kahlmeyers Film entstanden ist.

Ein vorläufiger Schutzraum, wenn auch nicht in Form einer Turnhalle mit Dutzenden Feldbetten darin, ist in Chris Wrights und Stefan Kolbes Predigerseminarbeobachtung „Pfarrer“ zu finden. Kaum zweihundert Kilometer von Eisenhüttenstadt entfernt nämlich liegt Lutherstadt Wittenberg. In der dortigen Schlosskirchengemeinde finden in regelmäßigen Abständen evangelische Priesterseminare statt. Fern vom Alltag soll das Verhältnis zum Glauben noch einmal in konzentrierter Form betrachtet werden, bevor es für die Gruppe von Mittdreißigern in die geistliche Praxis geht.

Wright und Kolbe, von denen sich insbesondere Wright als überzeugter, aber neugieriger Atheist zu erkennen gibt, schleusen ein paar interessante Fragen in das Seminar. Fünf Personen haben sie sich für ihren Film herausgepickt. Und was in „Pfarrer“ zu sehen ist, das ist wirklich Geist bei der Arbeit. Im Anschluss an die Vorführung im fsk Kino wird Michael Baute Kurzfilme von StudentInnen des Seminars Videoessayismus vorstellen, die „Pfarrer“ zum Ausgangspunkt für weiterführende Überlegungen nahmen.

Es ist der eigentlich unbetretbare Raum, der während der dokfilmwoche häufig zum Film­ort wird. „Städtebewohner“ von Thomas Heise etwa ist in einem Jugendgefängnis in Mexico City entstanden. Anlass zu Heises Reise war zunächst ein Theaterprojekt. Der Film enthält viel davon. So legt sich Brecht über die Schwarz-Weiß-Aufnahmen, Heise hat Jugendliche seine Gedichte rezitieren lassen. Sie werden nun eingespielt, und ein bisschen Musik gibt es auch.

Momente von Leichtigkeit:“Wenn es blendet, öffne die Augen“ von Ivette Löcker Foto: Foto:dokfilmwoche

Das ist aber nicht, was an „Städtebewohner“ fasziniert. Es sind die Bilder von Kameramann Robert Nickolaus, die Eindruck machen. So ist in dem Film auch viel Zärtlichkeit. Vater und Sohn picknicken auf einer Wiese, hinter ihnen bäumt sich eine Mauer auf, umrahmt sind sie von raschelnden Chipstüten. Da ist die Weihnachtszeit, um die herum „Städtebewohner“ sich bewegt. Oder ein junges Liebespaar. Wie vereinzelt solche Szenen im sonstigen Turnus sind, ist eine andere Frage. Aber Teil sind sie doch.

Genauso wie Momente von Leichtigkeit in Ivette Löckers „Wenn es blendet, öffne die Augen“ und in Alexander Nanaus „Toto and his Sisters“. Beide Filme erzählen von Drogenelend, der eine spielt in St. Petersburg, der andere am Rand von Bukarest. Die Welt sieht hier oft schrecklicher aus als lebenswert. Aber eben nicht ganz.

Zur dokfilmwoche laden vom 27. August bis 2. September die Kreuzberger Kinos fsk und sputnik ein