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Jetzt werden Zeltstädte gebaut

Unterkünfte Das Verfahren, nach dem Flüchtlinge untergebracht werden, ist gesetzlich fest geregelt. Dennoch haben die Städte und Kommunen einige Ermessensspielräume

von Christian Jakob

BERLIN taz | Ärzte schlagen Alarm: Eine „humanitäre Katastrophe“ spiele sich mitten in Dresden ab, erklärte jüngst der Mediziner Arzt Kai Loewenbrück. Ende Juli hatte die sächsische Landesregierung ein Zeltlager für 1.100 Flüchtling errichten lassen, weil die Erstaufnahmeeinrichtungen des Landes voll sind. Im Camp werde „das Menschenrecht auf Gesundheit, auf Privatsphäre, die Würde des Menschen nicht geachtet“, so Loewenbrück, der dort als Freiwilliger arbeitet. Das Kindeswohl sei in Gefahr, Mindeststandards der Weltgesundheitsorganisation für Flüchtlingscamps würden nicht eingehalten, viele Flüchtlinge seien krank geworden.

Sachsen ist keine Ausnahme: Vergangene Woche begann die Bundeswehr in Hamburg eine Zeltstadt für 420 Flüchtlinge zu bauen. In Brandenburg errichteten Soldaten in Eisenhüttenstadt das zweite Zeltlager. Am Montag bestellte auch der Thüringer Wartburgkreis bei der Bundeswehr ein Zeltlager. Müssen sich Asylsuchende hierzulande auf Zustände wie in den Weltregionen einstellen, aus denen sie geflohen sind?

Wer in Deutschland einen Asylantrag stellt, ist einem festen Unterbringungsverfahren unterworfen. Grundsätzlich gilt: Solange der Antrag bearbeitet wird, muss sich der Staat um die Unterbringung kümmern. Bei der Wahl des Wohnsitzes und der Unterbringungsform haben die Flüchtlinge kein Mitspracherecht. Nur die Einheit der Familie muss berücksichtigt werden. Die Länder müssen einen Anteil der Flüchtlinge aufnehmen, der ihrer Einwohnerzahl und Wirtschaftskraft entspricht. Bis zu drei Monate müssen die Flüchtlinge in sogenannten Erstaufnahmeeinrichtungen leben. Diese werden von den Ländern betrieben. Inzwischen sind sie fast überall voll.

Hamburgs Innensenator Michael Neumann (SPD) etwa verlangt deshalb, strukturschwache Regionen für die Aufnahme von Flüchtlingen stärker zu nutzen. Es sei unverständlich, dass in Ballungszentren Notunterkünfte für teures Geld gebaut werden müssten und in einigen Regionen Wohnraum mit Hilfe von Steuergeldern vernichtet werde. Hamburg würde für die Unterbringung der Flüchtlinge in anderen Bundesländern aufkommen, so Neumann. Die Ost-Länder lehnen dies ab.

Nach der Zeit in den Erstaufnahmelagern werden die Flüchtlinge auf Landkreise und Kommunen verteilt. Dort sollen sie laut Gesetz „in der Regel in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht“ werden. Damit sind Heime gemeint. Die Flüchtlinge müssen dort in der Regel bleiben, bis das Asylverfahren beendet ist. Das kann Monate, aber auch Jahre dauern. Die Vorschrift geht auf den Asylkompromiss von 1993 zurück.

Flüchtlingsorganisationen kritisieren, dass die Lagerunterbringung die Bewohner stigmatisiert und psychisch belaste. In Zeiten niedriger Flüchtlingszahlen sollte die Heimunterbringung in erster Linie verhindern, dass die Flüchtlinge soziale Kontakte zu Einheimischen aufbauen – sie diente der Abschreckung und Anti-Integration. Die Heime werden oft privat betrieben, nicht immer halten die Firmen die Standards ein. In den meisten Ländern lautet die Soll-Vorschrift: nicht weniger als 6 Quadratmeter pro Person, nicht mehr als fünf Menschen pro Raum.

Die Städte und Gemeinden haben aber Ermessensspielraum. Sie können Flüchtlinge auch auf dem freien Wohnungsmarkt unterbringen.

Flüchtlinge sollten keine sozialen Kontakte zu ­Einheimischen aufbauen – die Heimunterbringung diente zunächst der Abschreckung und Anti-Integration

Leverkusen etwa hat das seit dem Jahr 2000 praktiziert. 950 Flüchtlinge waren der Stadt damals zugewiesen worden. Kein Leben mehr mit Fremden auf engstem Raum, sondern in eigenen vier Wänden: „Das war eine gravierende humanitäre Verbesserung“, sagte der Stadtkämmerer Frank Stein (SPD) später dazu. Andere Städte, darunter Berlin, zogen später nach und entschieden sich gegen die Sammellager. Doch langsam kamen mehr Flüchtlinge, gleichzeitig wurde günstiger Wohnraum für alle immer knapper.

Es rächen sich jahrzehntelange Versäumnisse beim sozialen Wohnungsbau. Flüchtlinge haben bei der Wohnungssuche fast überall auch dann das Nachsehen, wenn sie anerkannt sind und nicht mehr im Lager leben müssen. Sie bekommen reguläre Sozialleistungen, finden aber oft keine Bleibe.

Berlin versuchte deshalb über einen Kooperationsvertrag Wohnungsbaugesellschaften ein „geschütztes Wohnraumsegment“ abzutrotzen, dass diese nur an Flüchtlinge vermieten dürfen. Doch das Kontingent umfasste nur einen Bruchteil der insgesamt knappen Wohnungen zu Niedrigmieten. 2011 schlossen die sechs beteiligten ­Wohnungsbaugesellschaften darüber zusammen ganze 26 Mietverträge mit Flüchtlingen ab.

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