: Worte statt Zahlen
LEISTUNG Bremen und Niedersachsen bewerten viele Schulen seit den 90er Jahren vermehrt die Entwicklung der Schüler und verzichten auf die klassischen Schulnoten. Die Zeugnis-Vergabe ist darum kein emotionaler Akt mehr
von Jens Fischer
Ein gutes Zeugnis ist eines voller Einsen. Oder eines, mit dem sich Kinder respektvoll wahrgenommen und animiert fühlen, Schwächen angstfrei zu überwinden. Da auch „mit dem Herzen“ gelernt werde, seien Angst, Stress und Druck in der Schule zu minimieren, betonte der Bund der Freien Waldorfschulen (BdFWS) zum Zeugnistag. In den Waldorfschulen gibt es bis zur Oberstufe keine Notenzeugnisse.
Auch für die jüngeren Jahrgänge an Schulen in staatlicher Trägerschaft wird Zensur von 1 bis 6 allmählich reduziert. Als Disziplinierungs- und Selektionsinstrument verpönt, werden die Noten mal weggedrückt, ausformuliert – sollen transparenter werden. „Lehrer wollen sich präziser ausdrücken und mit Schülern über ihre Leistungen ins Gespräch zu kommen“ – nicht mehr nur „Produkte des Lernens beurteilen“, sondern auch den „Prozess und die individuellen Kompetenzveränderungen“ der Schüler, lässt die Bremer Bildungsbehörde wissen. 1991 führte sie Lernentwicklungsberichte anstelle der Notenzeugnisse ein, in den Grundschule sind diese derzeit verpflichtend, eines der acht Gymnasien und die Hälfte der Oberschulen haben sich ebenfalls dafür entschieden.
In Niedersachsen sind Notenzeugnisse noch die Regel, nur zwei Ausnahmen sind genehmigt: Im 1. und 2. Jahrgang der Grundschulen gibt es Berichtsbögen – und in den Gesamtschulen. Dort dürfen die Gesamtkonferenzen für die 5. bis 8. Schuljahrgänge über die Art der Zeugnisse entscheiden.
Die Integrierten Gesamtschulen, ein Fünftel aller weiterführenden Schulen Niedersachsens, „arbeiten zumeist mit Lernentwicklungsberichten, weil es auch ihrem pädagogischen Konzept entspricht, den Schülerinnen und Schülern eine ausführliche Rückmeldung zu ihren Kompetenzen zu geben“, erklärt Susanne Schrammar, Pressesprecherin des Niedersächsisches Kultusministeriums – und zitiert die Regierungserklärung zum Thema Grundschulen: „Die rot-grüne Koalition wird es ermöglichen, das Benotungssystem durch Lernentwicklungsberichte zu ersetzen.“
Schlechte Noten gelten als Bestrafung und denkzettelnder Ansporn, gute Noten als Belohnung, also schulterklopfender Ansporn. Heute werden sie durch Standardformulierungen ersetzt. Entspricht voll den Erwartungen – das hat den Gegenwert einer Zwei. „Schüler rechnen um in Noten, das ist etwas, worunter sie sich was vorstellen können“, erklärt Gertrud Plasse, Psychologin der Niedersächsischen Landesschulbehörde in Hannover. „Noten verhindern aber Differenzierung, dass zum beispielsweise jemand erkennt, nicht einfach eine Fünf, sondern die beste Fünf seines Lebens bekommen zu haben.“ Die ausführlichen Lernberichte wären eine wichtige Ergänzung. „Meiner Ansicht sollte man Zensurenzeugnisse und Lernentwicklungsbögen parallel aushändigen.“ In den vierten Klassen ist das in Bremen bereits Usus.
Und was war bei den Gesprächen auf der Zeugnis-Hotline der Landesschulbehörde in Bremen los? „Von 50 Anrufern werden 49 von Eltern getätigt, die wissen wollen, wie ihrem Kind angesichts schlechter Beurteilungen zu helfen ist“, so Plasse. Die Stärken stärken? „Richtig. Wir müssen auch immer mal für die Entwicklungsbögen verdeutlichen, hinter welcher Formulierung sich die Stärken verstecken.“ Auch gebe es Eltern, die im Schönklang der Berichte übersehen, wie dort Probleme angesprochen werden. Früher wäre am Sorgentelefon oft von Schülern nachgefragt worden, wie die Zahlenbotschaften den Eltern zu vermitteln seien.
„Heute ist keiner mehr unliebsam überrascht“, berichtet Plasse. Es sei unabhängig von der Zeugnisform üblich, das Schuljahr über individuelle Entwicklungsmöglichkeiten deutlich zu machen. Deswegen gebe es keine Angst mehr vor Zeugnissen. Die Inempfangnahme des Wohlbekannten ist kein emotionaler Akt mehr, sondern sachlich zu absolvierender Schuljahresabschluss.
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