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Ein Kiez in der Zange

STADTENTWICKLUNG Viele Jahrzehnte totgeweiht, heute unter Verwertungsdruck: Die Lehrter Straße in Moabit wandelt sich wie kaum eine andere Straße in Berlin

von Nina Apin (Text) und Lia Darjes (Fotos)

Aus seinem Wohnzimmerfenster im sechsten Stock schaut Achim Schendel auf den Hauptbahnhof. Zum Greifen nah ist das neue Zentrum der Stadt mit seinen Einkaufsmöglichkeiten, Verkehrsverbindungen, dem Touristengewusel. Vom Wohnzimmer seiner Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung in einem 60er-Jahre-Block am Anfang der Lehrter Straße hat der 71-Jährige die Straße im Blick: das Flachdach der Berliner Stadtmission, bezogen kurz nach der Jahrtausendwende; verdeckt von Bäumen das ehemalige Frauengefängnis, aus dem die RAF-Terroristin Inge Viett in den 70ern gleich zweimal ausbrach; dahinter das 1927 eröffnete Post­sta­dion auf dem früheren Exerzierplatz. Am Horizont kann man den Fritz-Schloss-Park erahnen, einen aus Kriegstrümmern modellierten Stadtteilpark. Und den Tennisclub Schwarz-Weiß-Tiergarten, wo Achim Schendel seit seinem 20. Lebensjahr trainiert. „Mittendrin, besser geht’s nicht“, schwärmt der ehemalige Krankenhauseinkäufer.

Die Lehrter Straße ist Schendels Heimat, sein ganzes Leben hat er hier gewohnt. Früher mit den Eltern auf der anderen Straßenseite – eine bescheidene Wohngegend im Schatten der Mauer. Jetzt explodieren die Immobilienpreise: Vor fünf Jahren zahlten Mieter durchschnittlich 5,50 Euro pro Quadratmeter nettokalt. Seit diesem Jahr gilt die Lehrter Straße als mittlere Wohnlage, mit Quadratmeterpreisen zwischen 7,35 und 8,15 Euro. Auch die Kaufpreise haben angezogen: Durchschnittlich 2.450 Euro kostet der Quadratmeter inzwischen.

Mieten über Durchschnitt

An die 1.000 Wohnungen will die Groth Gruppe gegenüber dem Poststadion errichten, die Mieten sollen mit 8,50 bis 11 Euro pro Quadratmeter deutlich über dem Moabiter Durchschnitt liegen. Auf der anderen Seite der Bahntrasse drehen sich schon die Kräne für ein neues Stadtviertel namens „Europacity“. Es herrscht Aufbruchstimmung auf der Lehrter.

Die Straße verläuft schnurgerade, parallel zur Bahntrasse, 75 Hausnummern auf 1.000 Metern. Sie verbindet das Niemandsland am Hauptbahnhof mit Moabit. Dabei ist es noch nicht lange her, dass die Lehrter Straße selbst ein totes Eck war. „Verwahrloste Gründerzeitbauten mit zugenagelten Balkonen, überall Leerstand“, erinnert sich Michael Hübner. Der Industriedesigner wohnt am hinteren Ende der Straße, direkt über der Eisdiele Dolomiti, in einem Altbau mit kleinem Vorgärtchen.

Traum von der Autobahn

In den 70er Jahren bezog Hübner als Student eine halblegale WG. Das Haus war kaum bewohnbar, die Eigentümer ließen die Bausubstanz verrotten: Die gesamte Osthälfte der Lehrter Straße war zum Abriss vorgesehen, sie sollte einer geplanten Stadtautobahn weichen. Hübner und seine Freunde schlugen mit dem Hammer Durchbrüche zwischen den Etagen. Sie richteten sich ein in diesem hintersten Winkel von Tiergarten, in dem es kaum Verkehr gab, dafür jede Menge Studenten, Lebenskünstler, Gastarbeiter.

Die Lehrter hatte ihre wilde Zeit, jetzt beginnt was Neues. Man muss nur aufpassen, dass hier kein Investorenparadies entstehtMichael Hübner, Anwohner seit Jahrzehnten

Als es doch nichts wurde mit der Autobahn, sanierte man die Wohnungen. Hübner sicherte sich die Wohnung unterm Dach, in der er heute noch lebt: Fünfter Stock, urbaner Blick über die Bahntrasse. Und auf das Zelt seines ehemaligen WG-Genossen Rainer Z. Der schaffte den Absprung ins bürgerliche Leben nicht, flog vor wenigen Jahren aus seiner Wohnung im Erdgeschoss. Seither lebt er in einem Bretterschuppen auf der Brache, direkt unter Hübners Küchenfenster. Hübner macht sich Sorgen um seinen Exmitbewohner: „Bleiben kann er da nicht mehr lange.“

Bald fängt die Groth Gruppe an zu bauen. Dann wird sich ein Achtgeschosser direkt vor Hübners Küchenfenster schieben. Mit der Aussicht ist es dann vorbei. Der Exbesetzer nimmt’s gelassen: „Die Lehrter hatte ihre wilde Zeit, jetzt beginnt was Neues. Man muss nur aufpassen, dass hier kein Investorenparadies entsteht.“

Vor ein paar Jahren fingen große Investmentfonds aus dem Ausland an, Häuser in der Straße aufzukaufen. Im Büro des B-Ladens zeigt eine bunte Karte an der Wand die Eigentumsverhältnisse im Kiez. Pink für Großinvestoren, gelb für Einzeleigentümer, lila für Wohnungsbaugesellschaften. Darüber steht: „Wem gehört Moa­bit?“ Auf der Lehrter Straße gibt es noch Lila, aber auch viel Pink.

Kampf seit 20 Jahren

„Wir wollen die Veränderungen kritisch begleiten“, sagt Susanne Torka. Umfragen starten, Daten sammeln, Wissen teilen. „Leider sind die Leute immer weniger bereit, sich zu organisieren“, beobachtet die grauhaarige Landschaftsplanerin. Lethargie ist ihre Sache nicht: Seit mehr als 20 Jahren kämpft sie mit dem „Verein für eine billige Prachtstraße“ für gute Wohn- und Lebensbedingungen in ihrer Straße. Aus einer Bürgerinitiative, die für Instandsetzung der verwahrlosten Häuser stritt, bildete sich der Betroffenenrat Lehrter Straße. Und drum herum viele kleine Initiativgruppen.

„Unsere Erfolge sind kleinteilig“, sagt Susanne Torka bescheiden: ein Spielplatz, ein Grünstreifen entlang der Fahrbahn. In dem kleinen Büro stapeln sich Projekteordner. Manche verweisen auf Erfolge: der Zebrastreifen, der nach zwölf Jahren Ringen mit den Behörden jetzt vom Spielplatz rüber zur Ecke Kruppstraße führt. Manche auf Niederlagen: Die „AG Mittelbereich“ etwa löste sich aus Frust auf, nachdem alle Pläne für eine behutsame Entwicklung des mittleren Straßenabschnitts gescheitert waren. Auf der Ostseite stehen seit 2010 Townhouses mit Gärten, dichter als geplant. Und im Westen baut Groth – Widerstand zwecklos. „Wir können nur versuchen, auf die Mischung und die Preisentwicklung Einfluss zu nehmen“, sagt Torka. Sie bemüht sich, nicht resigniert zu gucken.

Ortstermin auf dem Brachland. Zwei Vertreter der Groth Gruppe und der Architekt Matthias Sauerbruch, der für die städtebauliche Gestaltung zuständig ist, versuchen einem guten Dutzend MoabiterInnen ihr Bauvorhaben zu erklären. Früher standen hier Kleingartenanlagen; auch „antike Bauelemente“ wurden verkauft. Die Verkaufsflächen warten auf den Abriss. Hier soll das „Quartier Lehrter Straße“ entstehen: schräg gesetzte Klötze, vorn Eigentum, hinten – zur Bahn hin – Miete, Verhältnis Hälfte, Hälfte, Baubeginn: Anfang 2016. Der Architekt spult sein Programm ab, die Anwohner schauen skeptisch.

Bauen ist Zerstörung

Ob er es moralisch vertreten könne, die Füchse und Nachtigallen von der Brache zu vertreiben, fragt ein junger Mann mit Dreadlocks. „Bauen ist immer auch Zerstörung“, erwidert der Mann von der Groth Gruppe. Was mit Rainer Z.s Hütte passiere, will eine Frau wissen? „Was der gebaut hat, ist nicht schützenswert“, kontert der Architekt. Rainer, der sich zur Gruppe gesellt hat, sieht das freilich anders. „Ich bin der Wächter des Oasengartens, um mich müssen sie wohl herumbauen“, kräht er fröhlich.

Die Gruppe zieht weiter zum Bauhof Ecke Kruppstraße. In der ehemaligen Kleiderkammer und Schneiderei des kaiserlichen Regiments arbeiten heute Architekten, Künstler, Designer. Auch Matthias Sauerbruch hat hier sein Büro. Und Karin Sander. Die Künstlerin hat die Zeichen der neuen Zeit erkannt, kauft Flächen auf, hat eine Baugruppe gegründet. Demnächst entstehen auf dem letzten freien Eck zur Lehrter Straße Eigentumswohnungen. Ab 3.400 Euro pro Quadratmeter.

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