: Immerbeweger und Müßiggangster
Schriften zu Zeitschriften: "archplus" spaziert mit Guy Debord durch die Stadt, "Paragrana" huldigt der Muße, auch wenn deren Analyse Anstrengung kostet
Am 17. Dezember 1966 bewegten sich 200 Studenten auf dem Berliner Kurfürstendamm Richtung Joachimsthaler Straße. Die Parolen des SDS rhythmisierten die Demotaktik: "Keine Keilerei mit der Polizei"; "Kommt die Polizei vorbei/ gehen wir an ihr vorbei/an der nächsten Ecke dann/ fängt das Spiel von vorne an." Dennoch griff die Staatsmacht vor dem Café Kranzler ein. 74 Personen wurden festgenommen, unter ihnen Rudi Dutschke. In die Geschichte der Studentenbewegung ging die SDS-Aktion als "Spaziergangsdemonstration" ein - neuartig hierzulande, inspiriert von den Protestformen Amsterdamer Provos.
Im städtischen Raum die herrschende Ordnung gleichsam im Wortsinn unterlaufen: dieser subversive, mittlerweile gut erforschte Traditionsstrang der APO hat auch seinen Auftritt im aktuellen, avancierten Heft der Zeitschrift archplus. Unter dem Titel "Situativer Urbanismus" versammeln sich hier diverse Ideen und Konzepte, Theorien und Utopien, die im Grunde nichts anderes wollen, als die herkömmlichen Stadtverhältnisse zu revolutionieren. Ziel ist eine zum Mitmachen anregende "Ermöglichungsarchitektur", die Räume produziert, ständig neue Situationen herstellt, in Bewegung bleibt und zur Bewegung animiert. Kreative Zwischennutzungen, "every day urbanism", antihegemoniale Stadtsoziologie, aber auch die Promenadologie des 2003 verstorbenen, in Kassel lehrenden Schweizer Spaziergangsforschers Lucius Burckhardt strahlen in diesem Heft aufeinander ab.
David Pinder demaskiert am Beispiel Le Corbusiers den autoritären Herrscherwillen, der in jedem Plan steckt. Die Forschergruppe "Urban Catalyst" stellt Beispiele für temporäre Nutzungen brachliegender Areale vor. Wie sich marginalisierte Jugendliche in Cliquen ihre städtischen Räume, nämlich Tankstellen, aneignen, hat der Fotograf Tobias Zielony dokumentiert. Mit GPS hat Daniel Belasco Rogers seit 2003 seine alltäglichen Wege durch Berlin aufgezeichnet und per Computer in Stadtpläne übertragen: faszinierende Lebenslinien, eine grafische Darstellung seiner Existenz. Gehen als ästhetische Praxis betrieben schon die Dadaisten am 14. April 1921 mit ihrem Parisspaziergang bei strömendem Regen, begleitet von zahlreichen Aktionen und Proklamationen. Bazon Brock empfand bei seinen Besteigungen des Mont Ventoux wie Petrarca 1335 "Anstrengungslust" als "Stimulans der Gedankenarbeit"; langjährige Pilgermärsche durchs Theoriegelände folgten (www.lustmarsch.de).
Anstelle der in den letzten Jahren intellektuell ziemlich müde gelaufenen Flaneur-Figur Walter Benjamins erwählten sich die archplus-Macher einen anderen bewegten Mann zum Leitbild für die Stadtbetrachtung: Guy Debord, den Mitbegründer der "Situationistischen Internationale", die vor ziemlich genau 50 Jahren, am 27. Juli 1957, gegründet wurde. Irritation, Störung, Radikalisierung, Zweckentfremdung war ihr Programm. Der erste Satz des Gründungsmanifests lautete denn auch: "Wir meinen zunächst, dass die Welt verändert werden muss." Und weiter: "Wir wollen die größtmögliche emanzipatorische Veränderung der Gesellschaft und des Lebens, in die wir eingeschlossen sind." Normen sprengte auch die Zeitschrift der Bewegung: Pin-Up-Girls erschienen in hochtheoretischen Texten. Diese umherschweifende Avantgarde war Pate der 68er Bewegung, nicht zuletzt in deren Vergeblichkeiten: Guy Debords letzter, melancholischer Paris-Film von 1978 trug den Titel "Wir irren des Nachts im Kreis umher und werden vom Feuer verzehrt".
"Ne travaillez jamais - arbeitet nie", hatte Debord 1952 an eine Pariser Hauswand gemalt. In der so gewonnenen Zeit lohnt der Blick in die Zeitschrift Paragrana, deren aktuelle Ausgabe sich der Muße hingibt. Der Schabbat wird analysiert; von japanische Teezeremonien ist ebenso die Rede wie vom faulen Löwen, der 22 Stunden am Tag döst, oder den "Müßiggangstern" Guillaume Paolis, den "Glücklichen Arbeitslosen". Man kann noch einmal Hermann Melvilles Verweigerungs-Helden Bartleby bewundern, dessen heroischer Satz "I would prefer not to" Deleuze und Agamben paradoxerweise zu anstrengender Denkarbeit antrieb. Der Historiker Wolfgang Reinhard beschreibt die Verdrängung der "Vita contemplativa" durch die "Vita activa" in der Frühen Neuzeit: Im Hochmittelalter war "Superbia", der Hochmut, die Hauptsünde, später dann die "Avaritia", die Habsucht. Um 1650 trat schließlich die "Pigritia" (Faulheit) an die erste Stelle der Verfehlungen. Alain Montandon spaziert durch die philosophisch-literarischen Theorien des Spazierens als "Müßig-Gang". Unter dem verheißungsvollen Titel "Muße als Beruf" muss Johannes Bilstein jedoch die natürlichen Grenzen einräumen. Sein Beispiel, der amerikanische Komponist Charles Ives, der oftmals Ruhe gleichsam vertonte, "bleibt ein Getriebener, der die Muße sucht und feiert, ohne sie in seinem Leben verwirklichen zu können".
"archplus". Zeitschrift für Architektur und Städtebau, Nar. 183: Situativer Urbanismus, 14 Euro ; www.archplus.net "Paragrana" Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie, Heft 1 / 2007; "Muße", 24.50 Euro, www.akademie-verlag.de
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