piwik no script img

André GorzDer Verabschieder des Proletariats

Das "Reich der Freiheit" hielt Gorz für möglich. Das Mittel hierzu sah er in der Umverteilung der Arbeit.

Einer der wichtigsten Theoretiker der Neuen Linken: André Gorz 1949. Bild: A.Gorz

Schon lange ist André Gorz nicht mehr öffentlich aufgetreten. Als ich ihn Anfang der Neunzigerjahre auf eine Veranstaltung nach Berlin einladen wollte, lehnte er ab: Er reise mit Rücksicht auf seine pflegebedürftige Frau nicht mehr. Nur selten hat er seinen Wohnsitz in Vosnon, einem kleinen Ort etwa hundert Kilometer von Paris entfernt, für mehr als einen Tag verlassen. Aber André Gorz musste nicht mehr auf Vortragsreisen gehen, um gehört zu werden. Er war einer der bedeutendsten Theoretiker der Neuen Linken, ein der menschlichen Emanzipation und Freiheit verpflichteter Philosoph mit marxistischen Wurzeln. Seine keineswegs leicht zu lesenden Bücher erreichten hohe Auflagen und beeinflussten ganz wesentlich die Debatten der undogmatischen Linken.

Nun hat er seinem Leben gemeinsam mit seiner Frau ein Ende gesetzt. Ich weiß nichts über die Motive. Aber es erinnert an Arthur Köstler, der vom linientreuen kommunistischen Parteimitglied zum unerbittlichen linken Kritiker des Stalinismus wurde und der den gemeinsamen Freitod mit seiner Frau als äußersten Ausdruck der freien, selbstbestimmten Entscheidung über das eigene Leben verstand. André Gorz war ebenfalls ein Theoretiker der Freiheit, aber gleichzeitig auch der freiwilligen, selbstgewählten menschlichen Bindung. Die gesellschaftlichen Bedingungen für eine so verstandene individuelle und soziale Emanzipation standen im Mittelpunkt seines Denkens.

Hierzulande wurde er mit seiner provokativen Schrift "Abschied vom Proletariat" aus dem Jahr 1980 bekannt. Die Gewerkschaften als Vertretung eben dieses Proletariats reagierten mit heftiger Ablehnung, ohne zu begreifen, dass Gorz nichts weiter als den unvermeidlichen Niedergang des männlichen, vollzeitbeschäftigten Lohnarbeiters beschrieb und der Linken empfahl, ihre Fixierung auf die traditionelle Lohnarbeit aufzugeben. Eine emanzipatorische, auf individuelle und soziale Freiheiten zielende politische Strategie müsse über die inhaltlichen und sozialen Grenzen der traditionellen Arbeiterbewegung hinausreichen und die Anregungen der Frauen- und der Ökologiebewegung berücksichtigen.

Gorz wurde mit dieser Schrift einer der Theoretiker der damals noch neuen "Neuen Sozialen Bewegungen". 1983, in dem Band mit dem verheißungsvollen Titel "Wege ins Paradies - Thesen zur Krise, Automation und Zukunft der Arbeit" präzisierte er diesen Gedanken. Die allgemeine Verkürzung und Umverteilung der entlohnten Arbeit erklärte er darin zum Schlüssel einer emanzipatorischen Umgestaltung der Gesellschaft. Bei aller Kritik, die Gorz an der traditionellen Arbeiterbewegung hatte, wollte er sich, anders als die Neuen Sozialen Bewegungen, nicht völlig von ihr abwenden.

In einem Interview, das im 1994 in der taz erschien, sagte er: "Die Umverteilung der Arbeit ist eine langfristig angelegte Politik, die den Versuch unternimmt, das schrumpfende Arbeitsvolumen kontinuierlich auf die Gesamtheit der arbeitenden Bevölkerung zu verteilen. Dabei wird der Arbeitslosigkeit durch eine fortschreitende Arbeitszeitverkürzung vorgebeugt und gleichzeitig ein sich kontinuierlich ausdehnender Raum für nichtwirtschaftliche Aktivitäten eröffnet." Eine solche Umverteilung der Arbeit, davon war Gorz überzeugt, kann ohne die Gewerkschaften nicht durchgesetzt werden. Doch die Gewerkschaften allein genügen nicht. Die Verkürzung und Umverteilung der Arbeit müsse auch ein "politisches und kulturelles Projekt" werden, bedarf also gesetzlicher und sozialer Regelungen.

In diesem Zusammenhang verwies Gorz auf skandinavische Modelle arbeits- und sozialrechtlicher großzügiger Freistellungsregelungen (Rückkehrgarantien und Lohnersatzleistungen. In den so gewonnenen, nicht durch den Zwang zum Broterwerb gebundenen Zeiten erschien für Gorz jenes "Reich der Freiheit", das Marx als Ergebnis der Produktivkraftentwicklung nach der proletarischen Revolution erwartete. In den sich erweiternden Freiräumen können die "zwischenmenschlichen Dienstleistungen (...) aus der instrumentellen Rationalität des Geldverdienens befreit werden und sich als Selbstzweck entwickeln".

Die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen lehnte Gorz ab: "Wenn es zu niedrig ist, erlaubt es allen möglichen Profiteuren, in Deutschland chinesische oder ukrainische Löhne für irgendwelche Drecksarbeiten zu zahlen. (...) Man subventioniert also die widerlichsten Ausbeuter. Und wenn das garantierte Grundeinkommen wirklich ausreichend ist, subventioniert und ermutigt man damit die Weigerung, überhaupt etwas zu tun, Man erlaubt dadurch den Arbeitgebern, die ganze notwendige Arbeit den Hochleistern vorzubehalten - die anderen können zu Hause bleiben oder Fußball spielen. In beiden Fällen spaltet sich die Dualgesellschaft immer tiefer."

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

5 Kommentare

 / 
Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • B
    BigOlsen

    Manchmal kann man sogar von Tagesspiegel was vernünftiges lernen, weil der im Gegensatz zu TAZ & Co. die Fakten richtig widergibt:

     

    "Das Prekariat sollte nach dem "Abschied vom Proletariat" (1980) aber nicht nur als bedrohliche Perspektive empfunden werden, sondern, wenn der Staat für ein Grundeinkommen Sorge trägt, auch gesellschaftsverändernde Kräfte entwickeln. Das Grundeinkommen, hoffte Gorz, würde den "Unsinn eines Systems" hervorheben, "das nie zuvor erreichte Arbeitszeitersparnisse ermöglicht, aber aus der so freigesetzten Zeit Not und Elend macht, weil es weder diese noch die produzierten oder produzierbaren Reichtümer zu verteilen und ebenso wenig den eigentlichen Wert von ,Mußezeit als Zeit für höhere Tätigkeiten' (Marx) zu schätzen weiß." Um diese gesellschaftlich sinnvollen Tätigkeiten ging es ihm - nicht um Umverteilung."

     

    http://www.tagesspiegel.de/kultur/Andé-Gorz;art772,2387436

  • BE
    Bodo Erkan

    Irgendiwe enden alle Vertreter der "Neuen Linken" tragisch. Denn Sie sitzen zwischen allen Stühlen. Im Grund sind sie Idealisten und Utopisten die an der Wirlichkeit zerschellen. Das Kapital freuts.....

  • MU
    Mark Unbehend

    Dass Gorz die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens ablehnte, ist schlicht falsch!

     

    Na ja, nicht ganz falsch, denn er lehnte es ursprünglich ab, wechselte dann aber mit seinem Buch "Arbeit zwischen Misere und Utopie" ins Lager der Grundeinkommens-BefürworterInnen.

    Und - genau das ist das Spannende an Gorz im Hinblick auf das Thema Grundeinkommen - er begründete diesen Wechsel detailliert und analytisch.

     

    Schade, dass die taz dies nicht richtig darstellt!

  • S
    spings

    Dein Text ist sehr lang und unübersichtlich.

    Kannst du die wichtigsten Gedanken nochmal zusammenfassen?

    Grüsse,

    spings

  • F
    Fenja

    Bitte liebe Leute, insbesondere innerhalb der Linken, macht euch klar, dass eine Verbesserung der Gesellschaft, des Systems nicht mit Manipulationen am Arbeitsmarkt zu erreichen ist.

    Der Großteil derjenigen, die heute auf Sozialleistungen angewiesen sind - und um diese geht es bei der Diskussion um das Grundeinkommen und der generellen Kritik oder Bemitleidung oder dem Ruf nach dem Sozialstaat - KÖNNEN gar nicht oder nur wenig(er) arbeiten, z.B. (vor allem) alleinerziehende Mütter, Behinderte, Menschen (meist Frauen), die sich um Angehörige (z.B. Eltern, Pflegefälle) kümmern, Rentner.

    Was soll all diesen ein Mindestlohn nützen? Nichts! Denn beim Mindestlohn tritt genau die gleiche Argumentation auf:

    Ist er zu niedrig, würde das für eben beschriebene Personen samt Familie (weiterhin) unausweichliche Armut bedeuten - denn Arbeitgeber samt der Gesellschaft im Gefolge trügen das Mantra "Wer mehr Geld will muss halt mehr arbeiten" vor sich her. Selbst schuld also, wer meint, Kinder in die Welt setzen zu müssen (sollen wir halt aussterben, die Welt ist eh scheiße) oder so blöd ist, sich um andere zu kümmern, oder Unfälle baut - alles andere ist halt Schicksal.

    Ist der Mindestlohn zu hoch, kann ebenfalls eine Arbeitsweigerung nicht vermieden werden - hier in der vom Arbeitgeber bezahlten Ausformung: Leistungsabfall, Nichtstun während der Arbeit, brachliegende Arbeitsmoral.

    Nein, was wir brauchen ist ein Wertewandel: Dass Kinder eben kein Hindernis sind und wir nicht hier sind um zu arbeiten, sondern um zu leben - und Kinder sind das Leben schlechthin! Eine gesunde Menschengemeinschaft muss ihr Handeln danach ausrichten, die Gemeinschaft zu stärken und den Nachwuchs in sie zu integrieren: mit viel Liebe und Verständnis. Dies ist heutzutage kaum möglich. Die meisten staatlichen Kindertageseinrichtungen sind besser gesagt Kinderaufbewahrungsanstalten, den Eltern wird das Zusammensein und eigenhändige Erziehen verwehrt, da sie auf den Arbeitsmarkt gezogen werden (nur wegen dem Arbeitsmarkt besteht überhaupt erst der Drang nach immer mehr Kindertageseinrichtungen). Versteht mich nicht falsch, Kindergärten und -krippen sind wichtig, aber wir müssen von der Haltung wegkommen, unbedingt unsere Kinder irgendwo unterbringen zu müssen, sondern es sollte in erster Linie darum gehen, Kinder mit anderen Kindern zusammenkommen zu lassen, schon früh in die Idee der Gemeinschaft hineinwachsen zu lassen, wobei geschulte und liebevolle ErzieherInnen sie an der Hand nehmen. Hier liegt die Basis unserer Gesellschaft! Hier lernen wir Konfliktlösung, Miteinander, gegenseitige Hilfe und Verantwortung!

    Wir brauchen also nicht Quantität (immer mehr Einrichtungen mit immer mehr Kindern), sondern Qualität!

    Hier kommen wir wieder zum Mindestlohn: Ja, wir brauchen einen Mindestlohn, aber nicht NUR! Wir brauchen einen Mindestlohn UND ein Grundeinkommen, sowie noch etliche Gebührenverordnungen für selbständige Berufe vor allem im Dienstleistungsbereich, damit sich das Dumping nicht noch mehr ausbreitet. Heutzutage ist es nämlich fast nicht möglich als zeiteingeschränkter Mensch sich selbständig zu machen, da die branchenspezifischen Preise, von denen man gut leben könnte und die Arbeit angemessen entlohnen, immer weniger zu finden sind. Statt dessen immer billigere Angebote, weil alle Angst haben, der andere könnte noch billiger sein - und davon leben kann keiner mehr. Wir brauchen zudem noch Mietgrenzen, damit man sich von seinem Lohn und/oder Grundeinkommen auch eine Wohnung leisten kann.

    Ein weiteres Problem tritt nämlich bei all diesen sozialen Fortschritten zu Tage: Dass die Preise, die Lebenshaltungskosten enorm in die Höhe schnellen, denn jetzt - so die Argumentation - hätten ja alle genug Geld. Und wir sind wieder da, wo wir angefangen haben. Deswegen ist auch das Grundeinkommensmodell des dm-Chefs Schwachsinn. Auch das CDU-Modell dient weniger den Menschen, sondern mehr der Pharmaindustrie. Wir brauchen ein bedingungsloses Grundeinkommen und ein Gesundheitssystem, in welchem sich jeder seine Behandlungsmethoden frei wählen kann.

    Wir brauchen also einen durchschlagenden Verbraucherschutz: angemessen berechnete Mietpreise, die die Kosten des Vermieters für eben jenen Wohnraum nur um ein geringes übersteigen dürfen (vielleicht absolute Höchstgrenze 5%). Die Nachweisschuld liegt beim Vermieter: Er muss sein Budget in Bezug auf den Wohnraum offenlegen. Hintergedanke: Es ist unmenschlich, aus der Not anderer Menschen, aus deren Grundbedürfnissen Kapital zu schlagen. Dem soll jeder Anreiz genommen werden. Statt dessen sollen Mietpacht-Verträge vereinfacht werden: Die Vermieter sollen ihrer Miet-Immobilien überdrüssig werden und diese an die Mieter selbst verkaufen (wenn diese möchten).

    Auch bei Lebensmitteln muss ein durchgreifender Verbraucherschutz her: Auf alle Lebensmittel, die gentechnisch veränderte Substanzen enthalten, muss eine Kennzeichnung drauf und zwar groß: So wie heute auf allen Bio-Sachen Bio draufsteht muss zukünftig auf allen Gen-Sachen Gen oder sonstwas draufstehen. Das absurde ist: Bio ist eigentlich der Naturzustand, aber muss gekennzeichnet werden, jede Verarbeitung und Hinzufügung diverser Substanzen nicht. Es muss doch genau andersrum sein: Immer dann, wenn etwas verändert oder hinzugefügt wurde, muss das drauf stehen, der Naturzustand sollte der Normalzustand sein!

    ... Der Text ist jetzt schon viel zu lang, aber ich hoffe, doch ein paar Gedankenanregungen gegeben zu haben. An alle, die gegen das Grundeinkommen sind die Frage: Was bitte macht ihr mit alleinerziehenden Müttern und den anderen besagten Personen?