Kolumne Klatsch: Die Brüste der Wahrheit

Was ist übrig geblieben von den großen Ideen des Berges Monte Veritá? Ein Teehaus und eine Gartendusche.

Berg der Wahrheit - Monte Veritá. Ich weiß nicht mehr, wo und warum sich dieser Name zum ersten Mal in meinem Kopf festsetzte. Aus einem Zeitungsartikel vielleicht über die Gründungsbewegung der Vegetarier vielleicht? Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern.

Doch seit vielen Jahren, immer wenn ich durch die Schweiz auf der A 2 in Richtung Italien fahre und zwischen Bellinzona und Mailand nach rechts aus dem Autofenster schaue, sehe ich unten die Häuser von Locarno am Ufer des Lago Maggiore liegen und denke: "Monte Veritá. Dort drüben muss er irgendwo liegen." Dann gebe ich einen kleinen Seufzer von mir und anschließend wieder Vollgas. Ich hätte nur die Ausfahrt "Locarno" nehmen müssen, um einmal hinaufzufahren auf den nicht gerade hohen "Berg der Wahrheit". Nur 321 Meter ist er hoch. Und doch für mich der höchste Berg, der höchste Berg meiner Gefühle.

Dort oben haben sie es zum ersten Mal ausprobiert, vor ziemlich genau 100 Jahren. Ich kenne ein Foto, auf dem sieht man bärtige Männer und junge Frauen in durchsichtigen Gewändern im Kreis tanzen. Bei Nacht. Oben auf dem Berg. Unter dem Foto steht: "Monte Veritá - 1904".

Wenn jetzt wieder so viel über die 68er Kommunen und ihre ausgehängten Klotüren geschrieben wird - ha, da muss ich ja lachen! Ha, ha, ha. Oller Käse, kalter Kaffee. Zu dieser Zeit saßen die Nackt- und Nachttänzer vom Monte Veritá bereits im Altersheim, wenn sie überhaupt noch lebten.

Sie haben splitternackt in der Sonne gelegen und auf die Spießer von Locarno hinuntergeblickt. Sie waren echte Kaltduscher, Vegetarier, Theosophen, freie Geister. Der Monte Veritá ist die Heimat der gardinenlosen Gesellschaft.

Wie es der Zufall wollte, war ich dieser Tage beruflich in Locarno unterwegs. Und sah auf einmal das kleine Hinweisschild: "Monte Veritá". Ich schlug das Lenkrad ein und folgte dem Schild über eine kleine Straße immer weiter den Berg hinauf. Ich stellte das Auto auf einen Parkplatz und nahm die restlichen Meter bis zum Gipfel zu Fuß. Oben steht heute ein Seminarhotel. Vor dem Eingang sprühte gerade ein Mann Tannenzweige und Tannenzapfen mit goldener Farbe an. Er sah mir nicht so aus, als könne er mir helfen, trotzdem fragte ich ihn, ob er wisse, wo sie damals gelebt hätten.

Er sah mich aus großen Augen an. "Die Anarchisten, die Freigeister, eben jene berühmten Bewohner vom Monte Veritá." Der Mann schüttelte nur den Kopf und sprühte weiter. An einer Seite des Berges führt ein Trampelpfad zu einem nur im Sommer geöffneten kleinen Teehaus. Tee, das klang mir schon ein wenig nach jenen Suchenden, die hier noch ganz andere Dinge als die Zubereitung von Brühgetränken ergründeten - und tatsächlich! Nicht weit von diesem Teehaus entfernt, fand ich eine rostige Gartendusche für vier Personen. Mit etwas Fantasie konnte diese Dusche durchaus 100 Jahre alt sein. Ich war elektrisiert. Wie ein neugieriger Detektiv schlug ich mich durch die Büsche und suchte nach Zeichen und Spuren. Bis ich plötzlich vor einer heruntergekommenen einsamen alten Villa stand, deren Türen und Fenster verriegelt waren, durch deren abgerissene Fensterläden ich aber ins Innere des Hauses spähen konnte.

Auf einem Tisch lagen vergilbte Blätter und Fotos. Auf einem der Bilder erkannte ich die Männer und Frauen in ihren weißen Nachtgewändern. Haben sie hier gewohnt? Haben sie hier das Leben neu erfunden? Durch die von Schmutz fast blinden Fensterscheiben konnte ich ein Plakat erkennen, das an der Wand hing und auf dem in altdeutscher Schrift die Worte standen: "Brüste der Wahrheit." Ganz genau - Brüste der Wahrheit? Jetzt war ich mir sicher. Ich war am richtigen Ort. Hier muss es gewesen sein. Einhundertunddrei Jahre her.

Als ich schließlich zu meinem Auto zurückkehrte, bemerkte ich am Rande des Parkplatzes zwei vergammelte Matratzen im Gebüsch liegen. Matratzen der Wahrheit, dachte ich - und fuhr davon.

PHILIPP MAUSSHARDT

KLATSCHFragen zum Monte Veritá? kolumne@taz.de Montag: Kirsten Reinhardt KATASTROPHEN

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Journalist, Mitbegründer der Zeitenspiegel-Reportageschule, hält Brandenburg für die neue Toskana.

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