Debatte Schweden: Musterland ist abgebrannt

In nur zwei Jahren hat Schwedens konservative Regierung den Sozialstaat amputiert. Im Wirtschaftsabschwung wird sich zeigen, ob diese Politik wirklich mehr Arbeit schafft

Schweden wird momentan vom unpopulärsten Kabinett der Nachkriegszeit regiert. Die bürgerliche Vier-Parteien-Regierung wird nur noch von 40 Prozent der Wähler unterstützt - das ist die niedrigste Zustimmungsrate seit 1972, als das statistische Zentralbüro mit den Erhebungen begann. Dabei waren die Voraussetzungen glänzend, als sie vor genau zwei Jahren die Wahlen gewann: der Haushalt verzeichnete Überschüsse, Arbeitslosigkeit und Staatsschulden sanken rapide. Es bedurfte schon eines besonderen Ehrgeizes, um eine solche vorteilhaft Ausgangslage in so ein katastrophales Umfragetief zu verwandeln. Und an Tatendrang hat es Fredrik Reinfeldts Ministern wahrlich nicht gefehlt.

Zum Teil verstörte es die konservativen Wähler, dass die Verteidigungsausgaben radikal zusammengekürzt und die geschlechtsneutrale Ehe vorangetrieben wurde. Aber das eigentliche Angstthema der bürgerlichen Anhänger buchstabiert sich FRA. Dies ist die Abkürzung für die Abhöranstalt des Verteidigungsministeriums, eine halbmilitärische Einrichtung, die während des Kalten Krieges die sowjetischen Funkwellen überwacht hat. Jahrelang haben idealistische Liberale vor dem Überwachungsstaat gewarnt, den die Sozialdemokraten nach den Terroranschlägen in den USA 2001 errichtet hätten. Als nun im Frühjahr die eigene Regierung ein neues Gesetz durchsetzte, das die FRA berechtigt, den gesamten grenzüberschreitenden Handy-, Internet- und Mailverkehr zu überwachen, da brach ein Proteststurm los. Offenbar hatte man die Bereitschaft der Bürger, ihre privaten Daten von Staatsagenten durchforsten zu lassen, falsch eingeschätzt.

Die niedrigen Umfragewerte spiegeln vielleicht auch einen grundsätzlichen Konflikt wider zwischen einem offiziellen Liberalismus, der im praktischen Regierungshandeln sehr autoritär auftritt, und der schwedischen Bevölkerung, die durch ihre starke Orientierung auf individuelle Freiheitsrechte auffällt. Nirgendwo zeigt sich der autoritäre Zug deutlicher als in der Sozialpolitik: Woche um Woche wird von der Regierung die Botschaft verbreitet, dass die Schweden ein Volk arbeitsscheuer Betrüger und Simulanten seien. Würden Löhne und Sozialleistungen nur hinreichend gesenkt, dann würden sich Kranke und Arbeitslose von "gefütterten Jungvögeln" in "fleißige Biber" verwandeln, wie es Wirtschaftsministerin Maud Olofsson ausdrückte. Dieses Programm wurde von den Wählern durchaus unterstützt - bis sie bemerken mussten, dass es auch sie selbst betraf, wenn Kranke in Jobs zwangsvermittelt wurden. So wurde etwa eine arbeitslose Frau aus Umeå nahe dem Polarkreis genötigt, ihre zweijährige Tochter zurückzulassen, um 1.400 Kilometer von ihrem Heimatort entfernt eine Probezeit anzutreten, und eine Frau mit Nacken-Trauma wurde in einen Vollzeitjob gezwungen, obwohl sie rund um die Uhr Rückenschmerzen hatte. Diese Fälle wurden breit in den Medien behandelt.

Lange galt Schweden als Beispiel, dass sich anständige Löhne mit Wettbewerbsfähigkeit und relativ niedriger Arbeitslosigkeit verbinden lassen. Doch das ist vorbei. Mit eiserner Hand schafft der Staat nun einen Niedriglohnsektor, wie er aus Großbritannien - und seit einigen Jahren auch aus Deutschland - bekannt ist. Dazu gehört, dass die Leistungen der Krankenkassen, der Arbeitslosenversicherungen und für Eltern gesenkt und die Bezugsdauer reduziert wurde. Dies sollte nicht nur Geld sparen, sondern auch die Beschäftigten disziplinieren und ihre Lohnforderungen reduzieren. Diese Ausbeutungspolitik mag funktionieren in einer Hochkonjunktur, wenn es tatsächlich freie Stellen gibt. Bisher ist die Arbeitslosigkeit auch tatsächlich gesunken. Aber nun beginnt der Abschwung. Dann wird sich zeigen, ob die Politik des Zwangs wirklich funktioniert - oder ob sie nur ein Mittel war, damit der Staat zu Lasten der Arbeitslosen und Kranken sparen kann. Denn gleichzeitig wurde die Einkommens- und Grundsteuer gesenkt und die Vermögenssteuer abgeschafft. Das würde, so die Idee, auch die Nachfrage nach billigen Dienstleistungen steigern.

Um die Löhne dauerhaft zu senken, muss man auch die Gewerkschaften entmachten. In Schweden gibt es keine Mindestlöhne, sondern Tarifabsprachen. Bisher haben diese sehr effektiv verhindert, dass sich ein Niedriglohnsektor ausbreiten kann, da über 75 Prozent der schwedischen Arbeitnehmer in Gewerkschaften organisiert sind. In ihrem Kampf gegen die Gewerkschaften ist die Regierung daher sehr umsichtig vorgegangen: Sie hat nicht direkt das Tarif- oder Streikrecht ausgehebelt, wie dies die bürgerliche Presse erwartet und angemahnt hatte. Denn für einen solchen Frontalangriff sind die Gewerkschaften noch zu stark. Stattdessen wird deren Macht nun Schritt für Schritt untergraben, indem es schlicht teurer wurde, Mitglied der Gewerkschaften und der Arbeitslosenversicherung zu werden. Für viele Arbeitnehmer haben sich die Beiträge mehr als verdoppelt.

Traten vor dem Regierungswechsel pro Jahr ungefähr 30.000 Arbeiter aus den Gewerkschaften aus; waren es 2007 plötzlich 130.000 - was ungefähr 7 Prozent aller Mitglieder entspricht. Gleichzeitig haben sich eine halbe Million Beschäftigte aus der Arbeitslosenversicherung verabschiedet. Sollte sich der Abschwung verstärken und Jobs verloren gehen, dann werden mehr Menschen von der Sozialhilfe leben müssen. Was sie dort erwartet, wurde in der vergangenen Woche bekannt: Langzeitarbeitslose müssen künftig einfache Arbeiten übernehmen, sonst verlieren sie ihre Sozialhilfe. So hat nun auch Schweden seine 1-Euro-Jobs.

Einige dieser Maßnahmen mögen vorübergehend sein. Die Sozialleistungen können wieder erhöht und die Reichen wieder stärker belastet werden. Aber selbst wenn es heute so aussieht, als würde der Linksblock die nächste Wahl gewinnen, dürften nicht mehr alle bürgerlichen Reformen zurückgedreht werden. Schon aus ökonomischen Gründen würde dies schwierig, denn Schwedens Wirtschaft gleitet in eine Krise und die Staatskassen wurden von der bürgerlichen Regierung geleert.

Zudem ist gar nicht auszuschließen, dass so mancher Sozialdemokrat insgeheim dankbar ist, dass die bürgerliche Regierung Reformen durchgeführt hat, an die man sich selbst nie herangetraut hat. Zudem müssen die Sozialdemokraten gar keine radikalen Korrekturen versprechen: Es reicht, wenn sie sich den Wählern als die etwas sozialere Variante präsentieren. Schon jetzt haben die Sozialdemokraten - verglichen mit ihrem Wahlergebnis von 35 Prozent im Jahr 2006 - in den Umfragen etwa 8 bis 10 Prozent hinzugewonnen. Denn für unzufriedene Wähler gibt es kaum eine Alternative: Eine Stimme für die Linkspartei oder die Grünen ist faktisch ebenfalls eine Stimme für eine sozialdemokratische Regierung. 2010 dürfte es daher in Schweden zu einem Machtwechsel kommen - aber nicht zu einem politischen Kurswechsel.

Übersetzung aus dem Schwedischen: Ulrike Herrmann

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