Regisseur Jürgen Gosch tot: Das Rohe und das Zarte

Seine Schauspieler waren beseelt von ihm, auch wenn sie sich in Bäume und Lämmer verwandeln mussten: Der Theaterregisseur Jürgen Gosch ist gestorben.

Vereinte in seinen Inszenierungen Exzess und Zartheit: Regisseur Gosch. Bild: dpa

Seine Kindheit und Jugend, erzählte Jürgen Gosch einmal, sei geprägt gewesen von der großen "Roheit", die in der Nachkriegszeit und in den 50er-Jahren in Ostberlin geherrscht habe. Der Ton sei derb, die Umgangsformen ungeheuer grob gewesen, berichtete er mit ausgesucht höflicher Stimme. Doch es klang nicht empört, sondern als fasziniere ihn dieser Umstand heute noch.

Der Kontrast zwischen exzessiven Spielweisen, die auch das Rohe, Barbarische, Ungezähmte mit einschließen, und einer wachsenden Zartheit im Blick auf die Menschen hat die intensive Theaterarbeit von Jürgen Gosch in den letzten Jahren geprägt - und er damit das Theater der Nullerjahre wie kaum ein anderer deutschsprachiger Regisseur. Die imposante Serie ausgezeichneter Inszenierungen, die er auf die Bühnen von Zürich und Düsseldorf, Hamburg, Hannover und vor allem des Deutschen Theaters in Berlin gelegt hat und die sich in beinahe jährlichen Einladungen zum Berliner Theatertreffen und anderen Auszeichnungen niederschlug, war keiner Glückssträhne geschuldet. Nach einer längeren Durststrecke hatte Gosch im Verbund mit seinem Bühnenbildner Johannes Schütz einen Schlüssel gefunden, wie er derbste Spiellust bei gleichzeitig strengem Form- und Raumbewusstsein ermöglichen konnte. Auch wenn man schon mal von im Eifer der Aufführung gebrochenen Nasen hörte: viele Schauspieler, die das Privileg hatten, mit Gosch geprobt zu haben, schienen danach wie beseelt.

Gosch hatte selbst in den 60er-Jahren an der Ostberliner Ernst-Busch-Schule für Schauspielkunst studiert. Nach Engagements und Regieversuchen in der DDR-Provinz holte ihn Fritz Marquart an die Volksbühne. Als dort 1978 seine Inszenierung von Büchners "Leonce und Lena" aus politischen Gründen abgesetzt wurde, ging Gosch in den Westen und bald ans Kölner Theater von Jürgen Flimm. Sein größter Erfolg der 80er-Jahre war sein zeichenhafter, mit gewaltigen Masken verfremdeter Kölner "Ödipus" (1984) mit Ulrich Wildgruber. Kurioserweise wurde gut 20 Jahre später das Zeichenhafte in der Arbeit von Gosch grob missverstanden: Sein furioser Düsseldorfer "Macbeth", eine textgenaue und unübersehbar hochartifizielle Performance mit Kunstblut und Fake-Exkrementen, löste die groteske "Ekeltheaterdebatte" aus, ohne dass es auch nur mal fies gerochen hätte.

Eine Ironie des Schicksals war es fast, dass ausgerechnet im Wendejahr 1989 Gosch in seiner ersten und einzigen Intendanz scheiterte: Er verließ die Berliner Schaubühne nach nur einer Spielzeit. Auch die wiedervereinigten 90er-Jahre am Deutschen Theater (Intendanz Langhoff) standen unter keinem guten Stern; Gosch selbst blickte später in unnachahmlicher Lakonie auf diese Zeit zurück: "Wie das manchmal so ist im Leben. Es gibt Zeiten, in den man unzufrieden ist, sich für das schämt, was man macht, und es merkwürdigerweise nicht so schnell ändern kann."

Und dann lief es plötzlich wieder. Gosch betonte, "kein Konzept" zu haben, sondern ein "großes Zutrauen" zu seinen Darstellern und in die gemeinsam verbrachte Zeit. Seine Düsseldorfer "Sommergäste" (2003) überraschten erstmals mit einem der minimalistischen Schachtelräume, die Johannes Schütz mit einer Art "Uhr" versah: eine sich während der Dauer der Aufführung langsam bewegende Wand, die von rechts nach links wanderte. Variationen solcher Schaukästen, später Wände, schuf Schütz auch später, oft sperrten sie die Spieler ein oder zwangen sie, in die erste Reihe abzugehen.

Innerhalb solcher strenger Rahmen brachte Gosch seine Spieler dazu, vermeintlich Unmögliches zu spielen: Ganze Ensembles verwandelten sich in Schafherden und mimten hinreißend komische, glaubhafte Lammgeburten ("Wie es euch gefällt", 2007 in Hannover), pfiffen, heulten, zirpten nächtliche Wälder und sommerliche Obstgärten herbei ("Sommernachtstraum", DT) oder überschütteten sich in Sturmfluten mit Wannen voll Wasser ("Was ihr wollt", Düsseldorf). Einfachste Materialien - Wasser, Äste, Farbe - reichten, um die Schauspieler in einen kontrollierten Exzess zu versetzen, der, weil stark an die literarischen Vorlagen gebunden, doch nie reiner Selbstzweck blieb.

In seinen Vorlieben für Autoren blieb Jürgen Gosch eigensinnig - und treu. Er widmete sich längst nicht nur Klassikern (und da vorzugsweise Shakespeare, Tschechow, Gorki), sondern auch dem Edelboulevard von Yasmina Reza und inszenierte regelmäßig Uraufführungen des Dramatikers Ronald Schimmelpfennig, dessen Texte, wie angeschubst von Goschs Regie, immer offener und experimenteller wurden.

In seinen letzten beiden Tschechow-Inszenierungen von 2008 - "Die Möwe" und mehr noch "Onkel Wanja" am Deutschen Theater - hat Jürgen Gosch sich mehr denn je und mit großer Zärtlichkeit auf die Erzählungen eines Dramatikers eingelassen. Das Zeichenhafte rückte in den Hintergrund, um Tschechows vergeblich Liebenden, verzweifelt Strampelnden Raum zu geben - in einem bei aller Melancholie immer wieder hochkomischen Ensemblefest. Am Ende von "Onkel Wanja" schließt Ulrich Matthes zusammengesunkener Wanja müde die Augen, während seine Nichte (Meike Droste) in einer letzten flammenden Rede Sinn und Zukunft beschwört und sehr, sehr langsam das Licht ausgeht. In dieses Augenschließen und Lichtverlöschen hat Jürgen Gosch ungeheure Sorgfalt und Zartheit gelegt. Bis vor wenigen Tagen noch hat er trotz schwerer Krankheit gearbeitet; gestern ist er mit 65 Jahren in Berlin gestorben.

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