Keine Gelder für Aids-Waisen: Chinas stille Katastrophe
In China trifft die Wirtschaftskrise die Schwächsten: die Aids-Waisen. Denn Hilfsorganisationen schließen aus Geldmangel ihre Büros. Doch eine deutsche Organisation will nicht aufgeben.
ANHUI taz | Etwas verrät sie. Anfangs könnte man die zwölf Jungen und Mädchen, die an diesem heißen Sommertag in ihre Schule gekommen sind, für normale chinesische Kinder halten. Immerhin tragen sie die gleichen bunten T-Shirts mit Aufdrucken wie "Adidas" oder "Mickey Mouse" wie ihre Mitschüler. Und sie sitzen genauso widerwillig still auf den Holzbänken wie alle anderen 6- bis 15-Jährigen.
Doch wenn man sie aufgereiht sieht auf ihren Bänken in ihrem weiß getünchten Klassenzimmer, dann wird klar, was sie unterscheidet von den anderen. Die Kinder von Jieshou lachen nicht.
Dabei ist heute ein sehr guter Tag für sie. Es ist Sonntag und diese komischen Ausländer sind wieder da. Sie sind gekommen, um den Kindern zu helfen.
"Zhao Xiaofang*, du bist dran", ruft der Mann von der lokalen Schulbehörde. Ein zierliches Mädchen im frisch gewaschenen, weißen Hemd steht von der Bank auf. Es nimmt einen Stift und zeichnet: "Zhao Xiaofang, geboren 1994". Nach ihrer Unterschrift reichen ihr die beiden lächelnden Frauen aus Deutschland 300 Yuan, umgerechnet knapp 30 Euro. Nicht viel Geld in Deutschland, auch nicht in Chinas boomenden Küstenstädten. Aber hier, in der armen Binnenprovinz Anhui, bedeuten sie Hoffnung. Hoffnung für Kinder, die sich bereits damit abgefunden hatten, dass sie sich auf niemanden verlassen dürfen.
Zhao Xiaofang ist eines dieser Kinder. Sie ist 15, aber sie sieht jünger aus. Wenn sie redet, fällt ihr der Pony immer wieder ins Gesicht. Die Haare sind auch ein Schutz vor den Menschen um sie herum. Doch ihre Entschlossenheit ist spürbar in jedem ihrer Sätze. "Nächste Woche mache ich meine Aufnahmeprüfung für die Mittelschule", sagt Xiaofang.
Ihr Vater und ihre Mutter sind tot. Alle drei Monate erhält sie nun Geld von der Aids-Waisenhilfe China, einem kleinen Verein mit Sitz im fernen Köln. So lange, bis sie ihre Schulausbildung beendet hat. Und vielleicht wird sie in einigen Jahren zu den Ersten zählen, denen der Verein sogar den ersehnten Besuch der Universität mitfinanziert. "Wenn ich die Mittelschulprüfung bestehe, will ich auch die Uni-Aufnahmetests bestehen", sagt sie mit leiser Stimme. Wegen Kindern wie Xiaofang sind die Deutschen hier.
Die beiden Frauen, die an diesem Tag ihre skeptisch blickenden Schützlinge unverdrossen anlächeln, heißen Vera Lehmann und Claudia Walther. Mit ihren blonden Haaren fallen sie auf in Anhui. Die ungläubigen Blicke der Einheimischen sind die Deutschen mittlerweile gewohnt. Beide haben einen Uni-Abschluss in Modernen China-Studien, leben seit Jahren in China und sprechen perfekt Chinesisch. Sie haben die Aids-Waisenhilfe China mit aufgebaut und reisen regelmäßig aus Peking an, um "ihre" Aids-Waisen zu besuchen.
141 Kinder zwischen 5 und 15 Jahren betreut ihr Verein derzeit. Konkret heißt das: Die Vereinsmitglieder in Deutschland werben um Spenden, und jene in China kümmern sich um die Zusammenarbeit mit den örtlichen Behörden. Diese freuen sich über die Hilfe - aber lieber nicht so laut, dass ihre Vorgesetzten dies als Kritik begreifen könnten. Die Arbeit vor Ort erledigt eine kleine chinesische Nichtregierungsorganisation, deren Name übersetzt "Pusteblume" heißt. Zwei ihrer drei Mitarbeiter, Ma Mingjung und Shen Zhihai, sind heute mit dabei.
"Wir wissen, wie es ist, ausgegrenzt zu werden", sagt Shen. Der junge Mann leidet unter spastischen Lähmungen, sein Kollege Ma hat ein verkrüppeltes Bein. Trotzdem arbeiten die beiden auch an den Wochenenden und fahren immer wieder in die weit auseinanderliegenden Dörfer, um nach dem Rechten zu sehen. Nur wenn ein Kind nachweisen kann, dass es regelmäßig zur Schule geht, erhält es auch beim nächsten Besuch wieder Geld.
Die Aids-Waisenhilfe sammelt seit fünf Jahren Spenden, um Kindern und Jugendlichen in dieser Gegend zu helfen. Unterricht kostet Geld im offiziell kommunistischen China. Viele Kinder müssen nebenbei arbeiten gehen. "Wir würden natürlich gern mehr tun: mehr Kinder fördern, mehr Geld geben, über längere Zeit fördern", sagt Vera Lehmann. "Aber unsere Mittel sind begrenzt, sie kommen fast ausschließlich von Freunden und Verwandten." Umgerechnet 22.000 Euro konnte ihr Verein im vergangenen Jahr hier, in der Provinz Anhui, verteilen. Lehmann weiß: Sie kann nur wenigen helfen, und die Zahl der Bedürftigen ist riesig.
Doch erst mal müssen sie weiter, zur nächsten Schule. Noch mehr Waisen warten, nur wenige Kilometer weiter, auf ihre Ankunft. Auf der Fahrt im stickigen Kleinbus geht es vorbei an einstöckigen, simplen Häusern mit Dächern aus Blech und an hastig hochgezogenen Wohnblöcken. In den grünen Feldern sind kleine weiße Kreise zu sehen: Bauern, die sich beim Reispflanzen mit ihren traditionellen, kreisrunden Hüten vor der Sonne schützen. Dies hier ist das vergessene China, das China der Dörfer und Kleinstädte, in denen der Wirtschaftsboom der Küstenstädte nur aus Erzählungen und dem Fernsehen bekannt ist. Die Provinz Anhui ist arm, und selbst nach hiesigen Standards gilt der Bezirk Jieshou als rückständig. Viele tausend Menschen, die der Armut entrinnen wollten, haben ihren Versuch mit dem Leben bezahlt.
Die Geschichte beginnt Anfang der 90er-Jahre. Damals versprachen lokale Gesundheitsbehörden der Landbevölkerung in mehreren Provinzen, sie könnten ihr karges Monatseinkommen ganz einfach vervielfachen: indem sie ihr Blut verkauften. Private Unternehmen zogen mit Wagen durch die Dörfer. Sie zapften den Dorfbewohnern Blut ab, trennten anschließend das profitable Plasma vom Spenderblut. Plasma bildet sich binnen weniger Tage neu. Damit die Menschen schon wenige Tage wieder kräftig genug waren für eine erneute Spende, sammelten die Unternehmer Blut derselben Blutgruppen in ihren Zentrifugen - und injizierten die verseuchte Mischung den nichtsahnenden Bauern. Das Verhängnis nahm seinen Lauf.
Warnungen vor der Epidemie wurden ignoriert
Studien, die bereits 1995 vor der nahenden Katastrophe warnten, blieben unter Verschluss: Der Plasmahandel war einfach zu lukrativ. Endemien entstanden, ganze Dörfer starben aus. All das wurde bis Ende der 90er-Jahre vertuscht. Da hatte sich das HI-Virus über mindestens 7 der 33 Verwaltungsregionen Chinas verbreitet. Das Todesurteil für hunderttausende Menschen, vielleicht sogar für Millionen. Nach staatlichen Angaben haben sich 250.000 Menschen infolge unsauberer Blutspenden mit HIV infiziert. Insgesamt gibt es laut UN derzeit 700.000 Infizierte und Erkrankte in China.
Nichtregierungsorganisationen halten diese Zahlen für viel zu niedrig. Sie schätzen, allein in der am stärksten vom Blutspendeskandal betroffenen Provinz Henan hätten sich über 1 Million Menschen beim Blutspenden angesteckt. Im Grenzgebiet der Nachbarprovinz Anhui ist die Lage ähnlich katastrophal. In diesem Gebiet liegt Jieshou. Deshalb lächeln die Schüler hier nicht.
Glaubt man inoffiziellen Schätzungen, gibt es heute bis zu 80.000 Aids-Waisen in China. Manche Kinder verwahrlosen oder sterben, andere kommen in staatliche Heime, über deren Zustände selbst die staatlich kontrollierten Medien kritisch berichten. Mehrere Institutionen versuchen, wenigstens einigen von ihnen zu helfen. Doch die Lage wird immer bedrohlicher. Ende 2008 schloss "Save the Children", die nach eigenen Angaben landesweit mehr als 11.000 Aids-Waisen betreut, ihr Büro in Anhui. Die britische Sektion der Hilfsorganisation erhielt nicht mehr genug Spenden, das Pfund verlor rapide an Wert. Damit zählen die Kinder von Anhui zu den vielen unvorhergesehenen Opfern der Weltwirtschaftskrise.
"Die Waisen sind doppelt stigmatisiert", sagt Claudia Walther im schwülen, rumpelnden Kleinbus. "Erst verlieren sie ihre Eltern durch eine schreckliche Krankheit. Und dann gelten sie unter den Dorfbewohnern als Todesbringer. Sie werden ausgegrenzt." Viele Menschen wissen bis heute wenig darüber, wie HIV übertragen wird. Dabei tragen die meisten Kinder das HI-Virus nicht in sich. Selbst das bisschen Hilfe, das der chinesische Staat anbietet, bleibt vielen von ihnen versagt. Staatliche Unterstützung erhält nur, wer einen schriftlichen Beweis vorlegen kann, dass seine Eltern an der Immunschwächekrankheit gestorben sind. Der deutsche Verein hilft Kindern, die keinen Nachweis haben.
Der Kleinbus wird langsamer. Ankunft bei der zweiten und letzten Station dieses Tages, der Duan-Zhai-Mittelschule, einem weiß getünchten Bau inmitten grauer Betoneinöde. Als der Wagen in die Einfahrt einbiegt, warten bereits rund zwanzig Jungen und Mädchen auf sie. Auch hier lächeln die skeptisch blickenden Kinder nicht, als sie die fremden Frauen sehen. Aber sie winken.
* Name von der Redaktion geändert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Rekordhoch beim Kirchenasyl – ein FAQ
Der Staat, die Kirchen und das Asyl
Preise fürs Parken in der Schweiz
Fettes Auto, fette Gebühr