Wirtschaft wächst wieder: Die Vermessung des Wohlstands

Die deutsche Wirtschaft ist erstmals seit Anfang 2008 wieder gewachsen - doch die Zahlen des Bruttoinlandsprodukts sagen nichts über individuelle Lebensqualität.

Vernachlässigtes Kriterium für Wohlstand: der Wassersprung. Bild: dpa

Es ist wieder so weit. Die Experten im statistischen Bundesamt haben ihre Rechner mit Zahlenkolonnen gefüttert. Wie viel Geld haben die Deutschen in diesem Frühjahr in den Supermärkten und beim Friseur ausgegeben? Wie viel haben die Unternehmen in neue Maschinen und hat der Staat in neue Straßen investiert? Dazu werden die Exporte addiert, die Importe wieder abgezogen. Heraus kommt eine Zahl, die irgendwo in der Nähe von 600 Milliarden Euro liegt. Wie hoch genau das Bruttoinlandsprodukt (BIP) des zweiten Quartals ist, werden die Statistiker am Donnerstag berichten (Ergebnis siehe Kasten). Und damit auch die Frage beantworten, wie tief die Deutsche Wirtschaft noch in der Krise steckt. Um wie viel Prozent ist das BIP geschrumpft? Oder ist es gar schon wieder gewachsen?

Der rasante Absturz der deutschen Wirtschaft ist gestoppt. Im Frühjahr hat sich die Wirtschaft überraschend schnell erholt und ist erstmals seit Anfang 2008 wieder gewachsen. Zum Vorquartal legte das Bruttoinlandsprodukt (BIP) real um 0,3 Prozent zu. Das meldete das Statistische Bundesamt am Donnerstag in Wiesbaden. Zugleich fiel der Absturz im ersten Quartal mit minus 3,5 Prozent deutlich schwächer aus als zunächst berechnet (minus 3,8 Prozent).

Zum Wachstum trugen der private Verbrauch, die staatlichen Konsumausgaben sowie die Bauinvestitionen bei. Auch der Außenhandel stärkte das Wachstum, obwohl wegen der Flaute in der Weltwirtschaft die Nachfrage nach deutschen Exportgütern sank. Da die Importe aber stärker zurückgingen als die Exporte, gab es einen positiven Beitrag des Außenhandels. Viele Unternehmen bremsten das Wachstum, weil sie ihre Lager abbauten.

Die Wirtschaft kommt überraschend schnell aus dem Tal, viele Volkswirte hatten für das Frühjahr einen weiteren Rückgang des BIP prognostiziert. Dennoch steht die deutsche Wirtschaft wegen des dramatischen Einbruchs schlechter da als vor einem Jahr. Im Vorjahresvergleich sank das BIP um 7,1 Prozent, kalenderbereinigt allerdings nur um 5,9 Prozent.

Um acht Uhr wird die wichtigste Kennziffer der Industriegesellschaft auf den Bildschirmen an den Börsen und in den Redaktionen auftauchen. Und dann wird dort gerechnet. Liegt das BIP über den Prognosen oder darunter? Devisenhändler werden sich fragen, ob der Kurs des Euro sinken oder steigen wird. Wer mit Staatsanleihen handelt, wird sich die Frage stellen, ob es sich weiter lohnt, Deutschland neues Geld zu leihen. Und die Politiker bereiten ihre Statements vor. Die jeweiligen Wachstums- oder Schrumpfungsdaten sind so etwas wie Geschäftsergebnisse der nationalen Ökonomien. An ihnen wird der wirtschaftliche Erfolg eines Staates und seiner Regierung gemessen.

Dass das BIP eine solchen Stellenwert hat, liegt zum einen daran, dass es statistisch gut nachvollziehbar und somit international gut vergleichbar ist. Zum anderen braucht ein Staat wie Deutschland stetes Wachstum, um Arbeitsplätze zu schaffen. Denn die Unternehmen sind aus Kostengründen daran interessiert, ihre Produktivität zu steigern, also mit immer weniger Personal auszukommen. Damit keine Stellen wegfallen, müssen entsprechend mehr Waren hergestellt oder neue Märkte erschlossen werden, sie müssen also wachsen. Gelingt das nicht, werden die neuen Arbeitslosen die Sozialkassen belasten, weniger konsumieren und so auf das BIP drücken. Sollen gar neue Arbeitsplätze entstehen, muss das Wachstum entsprechend höher ausfallen. Ab rund drei Prozent BIP-Wachstum beginnt der Berg der Arbeitslosen zusammenzuschmelzen, lautet eine Faustformel. Wachstum braucht Arbeit und Arbeit braucht Wachstum. Gustav-Adolf Horn vom gewerkschaftsnahen Institut für Makroökonomie sagt: "Eine Wirtschaft ohne Wachstum wäre keine friedliche Wirtschaft. Denn das bedeutet steigende Arbeitslosenzahlen und wachsende Verteilungskämpfe."

Doch das BIP sagt nicht die ganze Wahrheit. Es verschweigt zum Beispiel die Arbeitsleistung, die Eltern mit der Erziehung ihrer Kinder leisten. Auch Kochen und Waschen oder die unbezahlte Pflege von Angehörigen tauchen nicht auf. Dabei schätzen Ökonomen, dass die Leistungen in diesem Bereich rund 40 Prozent des BIPs entsprechen. Auch über die Kosten des Wirtschaftswachstums sagt das BIP nicht genug aus. Eine neue Straße oder neue Fabrik taucht auf der Habenseite der Volkswirtschaft auf, das dafür trockengelegte Feuchtgebiet oder der gerodete Wald wird aber nicht gegengerechnet. Krankheiten durch Stress und Umweltverschmutzung sorgen im Zweifel sogar für höheren Umsatz der Pharmaindustrie, selbst eine Ölpest am Ostseestrand kann das BIP steigern, weil den möglichen Ausfällen der Tourismusindustrie die Einnahmen der Spezialfirmen entgegenstehen, die den auf Grund gelaufenen Tanker bergen und die Strände reinigen. Würden verendete Möwen oder umweltbedingte Krankheiten bei Menschen mitberechnet, würde das BIP deutlich sinken. Nach Schätzungen der Weltbank läge das BIP Chinas pro Jahr sechs Prozent niedriger, manche Forscher gehen sogar davon aus, dass das BIP komplett von solchen Kosten aufgefressen würde. "Leerlaufwachstum" nennen so etwas die Ökonomen.

Doch neben intakter Gesundheit und Natur gibt es noch weitere Kriterien für den Wohlstand einer Gesellschaft, die über das Geld hinausgehen. Bildung, Kriminalitätsraten, Freizeit, intakte Familienstrukturen - das alles sind ebenfalls Indikatoren für den Entwicklungsstand einer Gesellschaft. Unter anderem deswegen veröffentlicht die Weltbank als großer Finanzierer von Entwicklungsprojekten regelmäßig für alle Länder den vom Nobelpreisträger Amartya Sen entwickelten Human Development Index (HDI).

Denn die Frage, welche Indikatoren neben oder gar anstelle des BIPs zur Beurteilung einer Volkswirtschaft herangezogen werden sollten, beschäftigt seit den 70ern die Wirtschaftswissenschaftler weltweit - mit zunehmender Bedeutung. Zurzeit suchen zum Beispiel fünf Nobelpreisträger und andere renommierte Ökonomen im Auftrag von Frankreichs Staatspräsident Nicholas Sarkozy nach neuen statistischen Werkzeugen, darunter Joseph Stiglitz, Amartya Sen und der Klimaökonom Nicholas Stern. In den kommenden Wochen wollen die Experten eine Empfehlung vorlegen. Laut den vorläufigen Ergebnissen wird die Gruppe aber nicht einen neuen Indikator vorstellen, der das BIP ablöst, sondern eher eine Art Armaturenbrett mit mehreren Anzeigen.

Auch die EU und das europäische Parlament haben bereits 2007 eine entsprechende Initiative gestartet. "Wir können den Herausforderungen der Zukunft nicht mit den Werkzeugen der Vergangenheit begegnen", beschrieb EU-Kommissionspräsident Manuel Barroso auf der Auftaktkonferenz die Motivation der Politik, die Lösungen finden muss für den Klimawandel und sozial auseinderdriftende Gesellschaften.

Auch zwei deutsche Forscher haben in diesem Rahmen vor Kurzem einen Vorschlag für einen neuen Index gemacht. Der Volkswirt Hans Diefenbacher, stellvertretender Leiter der Forschungsstätte Evangelische Studiengemeinschaft in Heidelberg, und sein Kollege Roland Zieschank von der Freien Universität Berlin haben im Auftrag des Bundesumweltministeriums und des Umweltbundesamtes den Nationalen Wohlfahrtsindex (NWI) entwickelt. Dabei greifen sie auf bereits bestehende Indizes des nachhaltigen Wachstums zurück, berücksichtigen aber unter anderem zusätzlich die Kosten, die durch Kriminalität und durch alkoholbedingte Krankheiten entstehen. Das komplexe Gebilde besteht aus 21 Faktoren. Das Ergebnis der Berechnungen: In den meisten Jahren seit 1990 lag der NWI unter dem Bruttonationalprodukt. Und während dieses seit den 90er Jahren ständig steigt, sinkt der NWI spätestens seit dem Jahr 2000 wieder. Eine Folge der unterschiedlichen Einkommensverteilung und zunehmender ökologischer und langfristiger Kosten unseres Wirtschaftens.

Doch Diefenbacher geht noch weiter. "Die Wirtschaft der Bundesrepublik ist zwischen 1950 und 1972 um das Siebenfache und seit 1972 noch einmal um das Doppelte gewachsen", sagt er. "Es wird immer schwerer, hohe Wachstumsraten zu erreichen." Das Ende des Wachstums herkömmlicher quantitativer Art ist also in Sicht.

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