FDP-Chef Westerwelle über die Wahl: "Ich liebe Latte Macchiato"
Guido Westerwelle kennt sich aus im Prenzlauer Berg. Dort ist es ihm aber zu "postmateriell satt". Stattdessen will der FDP-Chef lieber die Linkspartei bei den Sozialausgaben übertreffen.
taz: Herr Westerwelle, in manchen Milieus sind Sie eine regelrechte Hassfigur. Auf einem Grünen-Parteitag muss man nur Ihren Namen nennen, schon ist das Johlen sicher. Ist das ein Problem, wenn man im Fünfparteiensystem mit allen koalieren will?
Guido Westerwelle: Wenn ich bei der FDP den Namen Trittin erwähne, bricht der Saal auch nicht in Verzückung aus. Es ist mir wirklich egal, wie ein Grünen-Parteitag auf die Nennung meines Namens reagiert. Zurück zur Natur, aber bitte mit Zweit- oder Drittwagen: Das finde ich nicht überzeugend. Diese postmaterielle Sattheit ist nicht geeignet, die Grundlagen unseres Landes zu sichern. Latte-macchiato-Prenzlauer-Berg ist ja noch nicht Deutschland.
Im Saarland umwerben Sie die Grünen als Bündnispartner, bei der Wahl in Brandenburg in drei Wochen streben Sie eine Ampelkoalition an. Um der Mehrheitsbildung willen trinken Sie gern Latte macchiato?
Ich liebe Latte macchiato und den Prenzlauer Berg. Aber Sie können nicht erwarten, dass ich Ihnen hier die koalitionspolitischen Entwicklungen in 16 Bundesländern ausbreite. Da müssen Sie sich bitte an unsere Landesverbände wenden. Im Bund setze ich auf Schwarz-Gelb. Punkt. Aus.
Wenn Schwarz-Gelb regiert, fürchten viele Wähler selbst aus dem CDU-Milieu den sozialen Kahlschlag. Nächstes Jahr klafft ein Haushaltsloch von 90 Milliarden Euro. Ihre Sparvorschläge belaufen sich nur auf zehn Milliarden, gleichzeitig wollen Sie die Steuern senken. Wie soll das gehen?
Guido Westerwelle, 47, ist promovierter Jurist, seit acht Jahren Bundesvorsitzender der FDP und seit vier Jahren mit dem Sportmanager Michael Mronz liiert.
Sie denken viel zu statisch. Wir haben nicht nur 400 Vorschläge gemacht, wie der Staat konkret Geld sparen kann. Sondern auch, wie wir mit einem fairen Steuerrecht Wachstumskräfte stimulieren können. Nichts saniert die Staatsfinanzen effektiver als zusätzliche Arbeitsplätze. Wenn wir mit einem besseren Steuersystem nur 20 Prozent der Schwarzarbeit von rund 350 Milliarden Euro zurückholen in die reguläre Volkswirtschaft, ist das Thema der Staatsfinanzen beantwortet.
Dann halten wir fest: Gewinnt Schwarz-Gelb die Wahl, dann sinken die Steuern - und bei den Sozialausgaben wird trotzdem nicht gekürzt?
Ich bin sogar der Überzeugung, dass wir im Sozialstaat einige Ungerechtigkeiten korrigieren müssen. In den letzten Jahren habe ich viele Menschen getroffen, die mit Mitte fünfzig arbeitslos geworden sind und ihre Ersparnisse fürs Alter wegen Hartz IV eingebüßt haben. Deswegen werde ich dafür sorgen, dass das Schonvermögen auf 750 Euro pro Lebensjahr verdreifacht wird.
Damit überbieten Sie sogar die Linkspartei. Bei der Gesundheit wollen Sie dagegen eine staatliche Minimalversorgung, den Rest sollen die Leute privat versichern. Das System wird in den USA gerade abgeschafft.
Die Verhältnisse in den USA kenne ich gut. Und weil ich sie kenne, will ich sie hier nicht haben. Weil ich weiß, was wir am Sozialstaat haben im Gegensatz zu einem reinen freien Spiel der Kräfte. In den USA geht es darum, dass überhaupt ein flächendeckender Versicherungsschutz für alle eingeführt wird. Ich kann Präsident Obama nur viel Erfolg dabei wünschen.
Und bei uns wollen Sie diesen Versicherungsschutz abbauen?
In Deutschland geht es darum, dass wir Wettbewerbsstrukturen mit freier Arzt- und Versicherungswahl erhalten. Das ist der Unterschied zum Gesundheitsfonds, der am Ende als Zentralbehörde alles vorschreibt. Natürlich müssen sich nach dem FDP-Modell alle Kassen, ob privat oder gesetzlich, verpflichten, dass jeder Mensch einen Versicherungsschutz hat. Zu einem bezahlbaren Basistarif. Mit der Möglichkeit, Zusatzversicherungen abzuschließen.
Wahlforscher sehen die FDP nach den Landtagswahlen als Protestpartei, bei der es auf politische Inhalte kaum ankommt. In Sachsen haben Sie viele Wähler von der NPD bekommen. Fühlen Sie sich wohl in dieser Rolle?
Durch Unterstellungen über angebliche Wählerwanderungen werden Sie mir den Wahlerfolg in Sachsen nicht madig machen. Die Menschen sehen: Wir regieren in den sechs größten Bundesländern mit, dort leben drei Viertel aller Bundesbürger. Da ist keine einzige soziale Sicherung durchgebrannt. Deshalb wird die Kampagne mit schwarz-gelben Socken scheitern, die gerade gegen uns läuft.
Ihre Parteifreunde in den Ländern vertreten deutlich andere Konzepte. Als Sie auf Bundesebene noch Radikalreformen propagierten, ließ Ihr sächsischer Parteifreund Holger Zastrow schon plakatieren: "Herz statt Hartz".
Dann fragen Sie mal Herrn Zastrow, wer ihm damals zugeredet hat.
Sie wollen den Leuten doch nur die Angst vor Schwarz-Gelb nehmen. Behaupten Sie im Ernst, Sie waren schon immer gegen Hartz IV?
Wir haben die bürokratischen Ausführungsgesetze zu den Hartz-Reformen abgelehnt. Nicht die FDP hat mit Gerhard Schröder regiert, sondern die Grünen. Sie haben die Bürgerrechte gemeinsam mit Herrn Schily abgebaut, sie haben die Hartz-Reformen gemeinsam mit Herrn Clement durchgebracht.
Rot-Grün war aus Ihrer Sicht zu neoliberal?
Mit dem Wort kann ich überhaupt nichts anfangen. Diese Vorsilben sind ein untauglicher Versuch, das edle Wort liberal zu beschädigen. Heute versucht man es von links mit "neoliberal". Früher sagte man von Rechtsaußen "scheißliberal".
Was ist dann Ihre Vokabel für die rot-grüne Wirtschafts- und Sozialpolitik?
Der größte Fehler war, dass Rot-Grün den Schwung des Neuanfangs nicht genutzt hat. Die Bürger wollten nach 16 Jahren Helmut Kohl, bei allen historischen Verdiensten, wirklich einen Wechsel. Dieser Impuls ist verpufft. Weil man so glücklich war, den blank polierten Kabinettstisch mit den eigenen Handflächen streicheln zu können.
So etwas könnte Ihnen nicht passieren, nicht einmal im Außenministerium?
Nein, das kann mir wirklich nicht passieren. Dazu bin ich zu bürgerlich. Ich habe ein tiefes Gefühl von Verantwortung. Das nimmt man einem Rheinländer, der gerne lacht, vielleicht nicht ab. In Deutschland wird ja gerne Tiefsinn mit Trübsinn verwechselt. Wenn man den Gesichtsausdruck von Joschka Fischer abends im Fernsehen sah, fragte man sich immer, wie die Menschheit überhaupt überleben kann.
Die Frage ist vielleicht nicht unberechtigt.
Meine Generation und ich persönlich wissen genau, welche Verantwortung wir haben. Wir sind an einer Zeitenwende. Wir werden in diesen Jahren entscheiden, ob wir die Grundlagen unseres Wohlstands auf lange Sicht behalten oder verlieren - und damit auch unsere Freiheit, die kulturelle Vielfalt und die Abwesenheit von Krieg. Die Zeichen der Zeit sind in diesem Wahlkampf nicht verstanden worden. Ich wundere mich, dass ein so banaler Wahlkampf durchgelassen wird.
In dem Sie selbst ganz vorne dabei sind. Sie sagen: Wir senken die Steuern, dann wird alles gut.
Sie würden diese Frage nicht stellen, wenn Sie meine Wahlkundgebungen besucht hätten. Ich rede über fünf Schwerpunkte. Das eine ist in der Tat das Thema der wirtschaftlichen Vernunft und der sozialen Gerechtigkeit. Mindestens genauso wichtig sind Bildung und Bürgerrechte, Umwelt und Außenpolitik.
Dann bleiben wir bei der Umweltpolitik, bei den regenerativen Energien. Da sagt die FDP nur: Wir unterstützen das EU-Ziel, 20 Prozent des Energiebedarfs bis 2020 aus regenerativen Quellen zu decken. Da ist jede andere Partei weiter.
Ich habe nicht alle fünf Parteiprogramme auswendig gelernt. Auf unserem Bundesparteitag gab es zur Umwelt- und Energiepolitik die mit Abstand längste Diskussion. Mit dem Ergebnis, einerseits teure Subventionierung zu verhindern, andererseits die erneuerbaren Energien wirklich marktfähig zu machen. Wir wollen das Zeitalter der erneuerbaren Energien erreichen. Wir dürfen allerdings die Brücke dorthin nicht zerstören.
Mit der Brücke meinen Sie die Atomenergie?
Effiziente, saubere Kohlekraftwerke. Und eine längere Laufzeit für die sicherste Technik, die es weltweit im Bereich der Kernenergie gibt, nämlich die deutsche. Als Überbrückung. Ich glaube beispielsweise, dass die Solartechnik völlig unterschätzt wird. Wie wir heute unser Öl aus der Wüste holen, so werden wir eines Tages von dort auch einen großen Teil unseres Stroms importieren. Als ob die FDP nichts anderes im Kopf hätte als Atom. Dieses Klischee ist so dumm wie falsch.
Trotzdem haben Sie, auch bei anderen Themen, solche Klischees bedient und sogar Ihre eigenen Anhänger verschreckt. Laut Umfragen will die Mehrheit der FDP-Wähler keinen Außenminister Westerwelle, sondern lieber Steinmeier.
Freuen wir uns für Herr Steinmeier, dass er einen Amtsbonus hat. Er hats doch sonst nicht leicht.
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