Nach Überschwemmungen in Türkei: Furcht vor neuen Flutwellen

Premier Erdogan und seine Partei sind für die Flutkatastrophe mitverantwortlich. Jahrelang unternahmen sie nichts gegen Siedlungs-Wildwuchs in Flussbetten und an Steilhängen.

Diese Istanbuler konnten sich vor den Wassermassen retten. Bild: reuters

ISTANBUL taz | Der Wetterbericht gleicht einer Erläuterung der kommenden Schlacht. Groß wie eine Generalstabskarte ist das Stadtgebiet von Istanbul eingeblendet und überall sind dunkle Regenwolken eingezeichnet. Seit Freitagmittag warten die Einwohner der 15-Millionen-Metropole auf die nächste Flutwelle.

Das Wochenende könnte sogar noch heftiger als am Mittwochmorgen, als eine Flutwelle durch die westlichen Vororte der Stadt rauschte und 32 Menschen tötete. Immer noch werden Personen vermisst.

"Meine kleine Tochter wurde mir von der Flut buchstäblich aus der Hand gerissen", beschreibt Asli Manav in Hürriyet die Tragödie der Familie. Die eineinhalbjährige Dila verschwand in dem reißenden Strom, der wie aus dem Nichts plötzlich durch den Vorort Selimpasa rauschte und sich dann ins Marmarameer ergoss. Die Leiche des Kindes ist noch nicht gefunden, die Familie will die Hoffnung noch nicht aufgeben.

Der bloße Augenschein spricht dagegen, dass Dila noch leben könnte. Mit ungeheurer Gewalt bahnte sich das Wasser in Selimpasa einen Weg zum Meer. Am Strand sieht es aus wie auf einem Schrottplatz. Dutzende Autos wurden ins Meer gespült, zum Teil ineinander verkeilt.

Neben Selimpasa traf es vor allem noch Silivri, Halkali und Ikitelli. Silivri ist eine Kleinstadt westlich von Istanbul wo die Regenmassen ganze Stadtgebiete in Brackseen verwandelten. Halkali und Ikitelli sind dagegen Industriegebiete, die sich gerade in den letzten Jahren erheblich ausgeweitet haben. Vor allem Autozulieferer und Textilfabriken haben sich hier angesiedelt.

Die meisten Toten hat es im Zusammenhang mit diesen Fabriken gegeben. Auf einem Lkw-Parkplatz wurden etliche Fahrer, die in ihren Gefährten übernachtet hatten, in den Morgenstunden überrascht. Auf dem "Todesparkplatz" starben 13 Menschen. Sieben Frauen ertranken in einem Kleinbus, der sie zu ihren Arbeitsplatz in einer Textilfabrik bringen sollte.

Wie konnte es zu so vielen Toten kommen, ist die seitdem heftig diskutierte Frage. Zunächst schoben die verantwortlichen Politiker die Schuld dem Wetter zu. Seit hundert Jahren habe es nicht so heftig geregnet. Das seien die Auswirkungen des Klimawandels.

Erst als Umweltschutzorganisationen die städtebaulichen Sünden anprangerten, gab Istanbuls Oberbürgermeister Kadir Topbas zu, dass in der Vergangenheit Fehler gemacht wurden. Ministerpräsident Tayyip Erdogan, der aus dem Hubschrauber das Katastrophengebiet in Augenschein nahm, versprach Konsequenzen aus dem Desaster zu ziehen.

Erdogan, der 1994 bis 1998 Chef der Istanbuler Verwaltung war, und seine Nachfolger von der regierenden AKP sind für das Ausmaß der Katastrophe in hohem Maße mitverantwortlich. Sie ließen zu, dass jedes Jahr hunderttausende illegale Siedlungen am Stadtrand nachträglich legalisiert wurden, auch wenn sie in Flussbetten oder an Steilhängen gebaut worden waren.

Die meisten Bewohner dieser illegalen Siedlungen stammen aus anatolischen Dörfern. Diese Migranten sind konservativ und Wähler der AKP. Gerade dem massiven Zuzug dieser Menschen nach Istanbul verdankte Erdogan, dass er Anfang der 90er-Jahre für die islamische AKP die Metropole erobern konnte.

Deshalb ist es unwahrscheinlich, dass sich am Wildwuchs Istanbuls Rändern viel ändert. Im Gegenteil, seit Istanbul boomt und Grund und Boden von Jahr zu Jahr wertvoller werden, ist kaum noch ein Flecken davor sicher, betoniert und versiegelt zu werden. Erst kürzlich wurde bekannt, dass die AKP für den Bau einer dritten Autobahnbrücke über den Bosporus weite Teile des letzten stadtnahen Waldgebiets zerstören will.

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