Debatte Sexuelle Gewalt: Supervision für Pädagogen

Lehrer müssen ihre eigenen Tabus und Schutzmechanismen begreifen. Nur so kann verhindert werden, dass sie ihre Macht missbrauchen.

In der Debatte um die Missbrauchsfälle wohl meistfotografiert: die Odenwaldschule. Bild: dpa

Wenn Cristina Nord in ihrem Essay "Achtung vor den Opfern" anmerkt, die Debatte über sexuelle Gewalt hätte zur Folge, dass die Opfer nun nicht mehr um ihre Würde fürchten müssten, ist das zweifelsohne richtig. Doch sollen SchülerInnen in Zukunft tatsächlich vor sexuellen Übergriffen, vor Vergewaltigungen oder anderen Verletzungen geschützt werden, muss noch deutlich mehr passieren. So ist es höchste Zeit, die institutionellen Kommunikations- und Interaktionsmuster zu analysieren, die es einem Schulleiter 15 Jahre lang ermöglicht haben, seine Machtposition zu missbrauchen, ohne dass das Kollegium, die Schulbehörden oder die Eltern ihm Einhalt geboten hätten. Selbst nach Bekanntwerden dieser "widerlichen Vorgänge" 1999 war er noch bis Frühjahr 2009 Vorstandsmitglied einer pädagogischen Stiftung.

Wie lassen sich die hohe Akzeptanz dieser Gewaltstrukturen in unserer Gesellschaft und die große Identifikation mit den Tätern erklären? Meine Erfahrung in Forschung und Praxis, vor allem in Supervisionen mit LehrerInnen, zeigt: Je weniger Lehrer ihre eigenen Beschädigungen verarbeitet haben, desto größer ist die Gefahr, dass es in ihren Arbeitsbeziehungen zu den Schülern zu Störungen kommt. Agieren Schüler nun ihrerseits adoleszente (sexuelle) Größen- und Allmachtfantasien und/oder Verletzungen aus, die sie im Elternhaus, im Kindergarten oder in der Schule erfahren haben, verschärft sich die Konfliktsituation: Im Unterricht treffen sehr verschiedene Ungleichzeitigkeiten und Beschädigungen aus ganz unterschiedlichen Gesellschaften und Kontexten aufeinander und erschweren ungemein die Auseinandersetzung mit den schulischen Stoffen. Nicht selten werden solche "schwierigen Unterrichtssituationen", durch Mechanismen wie Kulturalisierung, Pseudopartnerschaft und Sexualisierung - um nur einige zu nennen - abgewehrt.

Erklärt eine Lehrerin etwa das provozierende Verhalten eines adoleszenten Schülers ausschließlich mit dessen türkisch-patriarchalischer Sozialisation und übersieht alle weiteren Motive, dann schützt sie sich vermutlich gegen Gefühle von Beschämung und/oder Ohnmacht. Vielleicht schützt sie sich auch gegen die eigene Hilflosigkeit, weil es ihr nicht gelingt, die schulischen Formen der Konfliktbewältigung mit denen zu vermitteln, die in der Familie des Schülers gelten. Oft liegt dem rohen, ungebändigten Verhalten einer SchülerIn die Unfähigkeit zugrunde, aufkeimende sexuelle Wünsche in sozial anerkannten Formen unter Kontrolle zu halten. Auch in der Odenwaldschule fanden Pseudopartnerschaft und Sexualisierung statt. Dort regredierten Lehrer und Schüler zur "Pseudofamilie", in der schließlich die Generationsschranken gänzlich zusammenbrachen.

ist Ethnologin und Pädagogin. Sie leitet das Berliner Institut für Kulturanalyse e.V. und arbeitet als Konfliktforscherin und wissenschaftliche Supervisorin

Wohlwissend, dass es für eine SchülerIn einen großen Unterschied macht, ob er oder sie Opfer einer Kulturalisierung oder einer Sexualisierung wird - die Folgen solcher sehr unterschiedlichen Erfahrungen sollen keinesfalls nivelliert werden -, ist es höchste Zeit, folgendes grundlegendes Defizit zur Kenntnis zu nehmen: In Ermangelung eines theoretisch-methodischen Rüstzeugs, mit dessen Hilfe Lehrer bei der Vermittlung von schulischen Stoffen zunächst ihre eigenen Verstrickungen, aber auch die ihrer Schüler verstehen und handhabbar machen könnten, versuchen sie die Situation zu meistern, indem sie Schutzmechanismen aktivieren. Hinzu kommt, dass viele von den eigenen Schwächen viel zu verunsichert sind, um entsprechende fachliche Kritik an Kollegen oder gar an Vorgesetzten zu üben. Gelegentlich findet auch unwillentlich so etwas wie eine "projektive Identifikation mit dem Aggressor" statt. Und manchmal wird das Wissen um die Defizite der anderen als "Schutzschild" benutzt. Weil jeder vom anderem etwas gewusst habe, so ein Altschüler aus der Odenwaldschule über das "Beckersystem", hat keiner etwas gesagt.

Noch immer ignorieren Bildungstheoretiker und (Reform-)Pädagogen fast aller Couleur diese Konflikte. Weshalb nach den blinden Flecken in Pädagogik und Erziehungswissenschaften zu fragen ist. Könnte es sein, dass sie ihre eigenen Beschädigungen und Traumatisierungen, die sie in der deutschen Nachkriegsgesellschaft durch Gewalt, Erniedrigung, Beschämung oder emotionalen Missbrauch erlitten haben, verleugnet, verdrängt oder gar abgespalten haben? Denn noch immer werden (reform)pädagogische Konzepte nicht daraufhin geprüft, ob sie den sehr unterschiedlichen Erfahrungen von Selbst- und Fremdzerstörung in Schulen überhaupt standhalten. Warum aber auch diejenigen, die diesseits von Gewalt, Misshandlung, Bloßstellung oder emotionalem Missbrauch aufgewachsen sind, sich den zerstörerischen Konflikten nicht stellen, mag damit zu tun, dass diese Problematik sie zu wenig tangiert.

Will der Runde Tisch, der jüngst von der Familienministerin einberufen wurde, tatsächlich (sexueller) Gewalt und Missachtung entgegenwirken, dann sollte er sich auf das Konzept "Schule als gesellschaftlicher Übergangsraum" einigen. Die Lehrerausbildung bildet hierbei den Ansatzpunkt, und die Forderung nach einer berufsbegleitenden Supervision ist zentral. Diese nämlich würde PädagogInnen zum einen erlauben, sich ihrer eigenen Beschädigungen bewusst zu werden. Zum anderen fände eine Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen kulturellen und sozialen Erstarrungsformen sowie psychodynamischen Fixierungen statt, durch die Verletzungen und Traumata generationsübergreifend weitergegeben werden.

Das Ziel eines solchen Ansatzes ist, im ersten Schritt eine Kunst des Zuhörens zu entwickeln und im zweiten entsprechenden Verletzungen im Unterricht zu begegnen, indem diese offensiv zur Sprache gebracht werden - etwa durch die Analyse entsprechender Stoffe im Literatur- oder Kunstunterricht. Nur wenn eine Konfliktkultur in den Schulen erarbeitet wird, lassen sich erlittene Traumata aufklären und der Mechanismus zur zwanghaften Wiederholung durchbrechen. Nur dann würden die systemischen Ursachen für sexuelle und emotionale Gewalt angegangen.

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