Ghetto-Überlebender Ladislaus Löb: "Er pokerte, um Leben zu retten"
Die Judenfeindlichkeit in Ungarn, die Erfolge chauvinistischer Parteien sind Folge der unbewältigten Vergangenheit. Ladislaus Löb wurde nur gerettet, weil ein Mann 1.000 Dollar für ihn zahlte.
taz: Herr Löb, Sie wurden in Ungarn als Jude verfolgt. In der aktuellen Debatte über Medienzensur werden kritische Intellektuelle im Land mit antisemitischen Sprüchen verfemt. Schmerzt Sie das?
Ja. Was da derzeit passiert, wundert mich leider überhaupt nicht. Der Einmarsch der deutschen Truppen beschleunigte zwar die Vernichtung der Juden in Ungarn. In den 1920er Jahren dominierten aber schon in der ungarischen Politik chauvinistische und antisemitische Einstellungen. Schon als kleines Kind schimpften Nachbarn mich "Stinkjude". Große Überredungskünste brauchten die Nazis also nicht für ihre Verfolgungs- und Vernichtungspolitik. Die ungarische Regierung, der ungarische Mob war dazu nur zu bereit.
Und wie wirkt das heute nach?
LADISLAUS LÖB kam am 8. Mai 1933 im heute rumänischen Cluj (ungar. Kolozsvár, dt. Klausenburg) zur Welt. Schon als Kind erlebte er antisemitische Anfeindungen. Er ging nach seiner Rettung nicht nach Israel, besuchte in der Schweiz eine Schule und studierte dort. An der Universität von Sussex (England) war er Professor für deutsche Sprache und Literatur.
Ladislaus Löb: Geschäfte mit dem Teufel. Böhlau Verlag, Köln 2010. ISBN-10 3412203890 | ISBN-13 9783412203894
Dies dürfte mit ein Grund sein, dass die Ungarn wieder ganz chauvinistische Parteien wählen, wieder Juden und Sinti und Roma angegriffen werden.
Die Nationalsozialisten versprachen den Juden auch in Ihrem Heimatort eine Umsiedlung. Ihr Vater glaubte das nicht. Warum?
Mein Vater war vorsichtiger, misstrauischer als andere. Binnen zwei Wochen wurden im Mai 1944 an die 18.000 Juden in eine stillgelegte Ziegelfabrik eingesperrt. Gerüchte von Arbeitseinsätzen und Umsiedlungen kursierten. Mein Vater wurde während des Ersten Weltkriegs als ungarischer Soldat am Knie verletzt, und so zum 50-prozentigen Invaliden. In der Ahnung, dass die Entwicklung zu nichts Gutem führen würde, fälschte er in einer Urkunde seine Invalidität auf 75 Prozent hoch, damit er nach dem Judengesetz von 1938 nicht mehr als Jude galt. Ohne den Stern konnte er sich frei bewegen, um die Flucht vorzubereiten. Nach britischen und amerikanischen Bombenangriffen im Juni flohen wir in den Wirren mit der Bahn nach Budapest.
Ihr Buch vermittelt den Eindruck, dass das Ghetto für sie als 11-Jähriger ein Abenteuer war. Ist das gewollt?
Das Ghetto war nun einmal ein Ausnahmezustand: Die Schule war früh zu Ende, auf dem Gelände konnten wir Kinder spielen, die Eltern schickten einen nicht ins Bett. Die eigene Angst konnte bei den kindlichen Abenteuern mal verschwinden. Aber wir spürten die seelischen und körperlichen Belastungen der Erwachsenen und erlebten Not und Tod. Heute weiß ich, dass fast das gesamte Ghetto nach Auschwitz deportiert wurde.
Wie bekam ihr Vater in Budapest Kontakt zu der Gruppe von Rezsö Kasztner, die Juden helfen wollte?
Das weiß ich nicht. Meinem Vater habe ich nie Fragen zu dieser Zeit gestellt, er hat auch nie darüber geredet. Diese Chance habe ich vertan.
Kasztner verhandelte mit der SS, mit den Nazigrößen Adolf Eichmann und Kurt Becher über den Freikauf von Juden …
Geld für jüdisches Leben. Über Monate feilschte Kasztner mit Eichmann und Becher. Immer wieder wagte er sich zu ihnen hin ohne wirklich Geld in den Taschen. Andere Mitglieder des Rettungskomitees versuchten derweil, Geld zu besorgen. Alle pokerten. Letztendlich schaffte Kasztner es, das Lösegeld auf 1.000 Dollar pro Person festzulegen. Das erscheint nicht ganz so heroisch wie der Aufstand im Warschauer Ghetto, aber durch diese Geschäfte mit diesen Teufeln wurden über 1.670 Leben gerettet. Die ganz genaue Zahl derer, die durch diesen Poker mit einem Zug über einen Zwischenstopp im Lager Bergen-Belsen in die Schweiz entkamen, lässt sich nicht mehr genau eruieren.
Wurden die Freigekauften in Bergen-Belsen als privilegierte Gruppe behandelt?
Am 9. Juni 1944 erreichten wir Bergen-Belsen, das wir nach fünf Monaten Richtung Schweiz verlassen konnten. Als wir im Lager ankamen, war das ein Schock. All die Menschen hinter den Stacheldrahtzäunen, ausgemergelt und entwürdigt. Zerlumpte Menschen, die die Wachen misshandelten. In solch einer Situation hat man aber keine edlen Gefühle, man denkt gar nicht an die anderen. Uns blieben die Misshandlungen erspart, wir waren aber auch in überfüllten Baracken eingesperrt, mussten stundenlange Zählappelle durchstehen, Hunger leiden, Krankheiten und Ängste breiteten sich aus. Aber ich möchte nicht missverstanden werden: Wir waren die Privilegiertesten im Lager. Die Menschen aus unserer Gruppe, die später nach Israel gingen, wurden dort gehasst.
War es dieser Hass, der zu einem Prozess wegen Kasztners Machenschaften führte?
Machenschaften, ja dieses Wort passt zu den Vorwürfen. 1954 begann der Prozess vor dem Bezirksgericht Jerusalem, in dem Kasztner vorgeworfen wurde, mit den Nazis kollaboriert, indirekt Mord an jüdischen Menschen mit ermöglicht und einen Kriegsverbrecher gerettet zu haben. Letztlich wurde Kasztner zum Verhängnis, dass er für Becher, immerhin Heinrich Himmlers Sonderbeauftragter für Budapest, eine wohlwollende Erklärung abgegeben hatte. Er leugnete es erst, und als die Wahrheit herauskam, wurden ihm auch seine Rettungsbemühungen nicht mehr geglaubt.
Dass Sie als Kind Kasztner nicht verteidigt haben, ist verständlich. Aber warum haben sich die Älteren aus der Gruppe der Freigekauften nicht geäußert?
Sie hatten Angst. Sie waren in Israel die Paria, wurden offen angefeindet. Das Verfahren zwang Israel zum ersten Mal, sich öffentlich mit den Auswirkungen des Holocausts auf uns selbst auseinanderzusetzen. Und das in einer Zeit massiver gesellschaftlicher Konflikte zwischen den Juden, die vor dem Krieg schon in Palästina sich niedergelassen hatten, kämpften, und den Überlebenden aus Europa, die kaum mit dem Verlust der Familie und dem eigenen Überleben fertig wurden. Eigentlich konnte das Gericht der Situation kaum gerecht werden. Die Umstände waren außergewöhnlich und Kasztners Reaktionen waren es ebenfalls. Er riskierte sein Leben, pokerte, um zu retten. Wer vermag das später moralisch zu bewerten?
In einem Berufungsverfahren wurden die Beschuldigungen revidiert. Die Richter berücksichtigten die Umstände der Zeit und kamen damit zu spät.
Ja, 1958 erklärten die Richter des Obersten Gerichtshofs in Jerusalem, dass angesichts der einmaligen Verhältnisse Kasztners Handlungen nicht nach den absoluten Maßnahmen normaler Zeit beurteilt werden kann. Das Eingestehen eines Justizirrtums erlebte Kasztner aber nicht mehr. Am 3. März 1957 hatte Zeev Eckstein ihn vor seiner Wohnung niedergeschossen. Acht Tage später erlag Kasztner den Verletzungen.
Warum haben Sie ihr Buch erst 2010 veröffentlicht?
Ich wollte keine Ausnahme sein. Ich wollte sein wie die anderen. Ein guter Germanist sein. Das war natürlich ein Fehler.
Und wegen Kasztner haben Sie es dennoch geschrieben?
Ja. Er hätte etwas Besseres verdient als einen Justizirrtum und eine Kugel.
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