Debatte Bildung: Das Trauma von Hamburg

Bei den Wahlen in Hamburg spielt die Schulpolitik keine Rolle mehr. Seit dem Volksentscheid vom Sommer 2010 zittern die Parteien vor dem Bildungsbürger.

Hinter dem Hamburger Streit verbirgt sich ein gesellschaftlicher Streit. Bild: ap

Anfang Februar tauschten sich in Berlin hochkarätige Bildungsexperten aus Korea und Kanada im Beisein von deutschen Politikern über neue Wege zur Bildungsgerechtigkeit aus. Man hatte zwei Stunden lang diskutiert, nun durfte das Publikum Fragen stellen. Ein junger Mann sprang auf: "Sie reden hier über verschiedene Konzepte, und es klingt so, als bräuchten wir uns nur das Beste aussuchen", begann er. "Aber es gibt ja genügend Bürger, die mehr Gerechtigkeit aktiv blockieren, wie das Beispiel Hamburg gezeigt hat. Wer nimmt der Politik eigentlich die Angst vor dem Wähler?", fragte er.

Die Frage ist berechtigt. Sieben Landesparlamente werden in diesem Jahr gewählt, und eines ist sicher: Keine Regierung wird es nach gewonnener Wahl wagen, die Bildungslandschaft umzukrempeln. Niemand wird sich trauen, die Trennung von Schülern nach Lerntypen aufzuheben oder den Braindrain der Besten nach Klasse vier gen Gymnasium zu stoppen. Zu frisch ist das Trauma von Hamburg.

Zur Erinnerung: In Hamburg wollte ein breites bürgerliches Bündnis von CDU und Grünen im Verein mit Verbänden von der Handwerkskammer bis zum Deutschen Roten Kreuz die Grundschulzeit um schlappe zwei Jahre verlängern - und ist grandios gegen eine Bürgerinitiative im Volksentscheid gescheitert. Seither gilt die Hansestadt als Waterloo für Politiker, die auf längeres gemeinsames Lernen setzen. Also zucken die Parteien beim Thema Bildung zurück. Sie kraulen die Wähler im Nacken und schnurren: Wir machen nichts gegen euren Willen, liebe Wähler, selbst wenn ihr uns gar nicht wählen werdet.

Rot-Grün hält zum Schulfrieden

In Hamburg wird am Sonntag gewählt. SPD und Grünen wird in vielen Umfragen eine komfortable Mehrheit vorausgesagt. Beides sind Parteien, die jahrelang längeres gemeinsames Lernen forderten. Doch die SPD betont jetzt, getreu dem vor dem Volksentscheid geschlossenen "Schulfrieden", die Strukturen zehn Jahre lang nicht anzutasten. Und für die Grünen ist Bildung nur noch auf Platz sechs auf einer Zehn-Punkte-Agenda, nach "innovationsfreudige Wirtschaft" und "Mehr Grün in der Stadt".

In Baden-Württemberg, wo die wohl wichtigste Landtagswahl dieses Jahres stattfindet, scheint zum ersten Mal in der Geschichte des Landes eine Koalition von SPD und Grünen möglich. Die SPD will laut ihrem Wahlprogramm den Bildungsweg von der sozialen Herkunft entkoppeln und schrittweise Gemeinschaftsschulen einführen. Aber, so beruhigt SPD-Bildungsexperte Frank Mentrup, gedreht werde nur an kleinen Stellschrauben: Ein Bildersturm sei nicht geplant. Linke Politiker setzen also darauf, dass sich "Schulen für alle" evolutionär entwickeln - dort, wo Eltern und Kommunen sich dafür stark machen. Doch damit macht es sich die Politik zu leicht.

Mittelschicht bleibt unter sich

Hinter dem Streit um "frühe Trennung" versus "längeres gemeinsames Lernen" verbirgt sich ein gesellschaftlicher Konflikt. Durch die frühe Trennung der Kinder sichern die bildungsnahen Schichten ihren Kindern einen Platz am Gymnasium und damit in der bildungsgesellschaftlichen Elite. Sie grenzen sich nach "unten" ab - und das mit Erfolg: Von 100 Kindern aus Akademikerfamilien erreichen 79 die gymnasiale Oberstufe. Von 100 Kindern, deren Vater höchstens einen Hauptschulabschluss hat, kommen lediglich 34 so weit.

Jene, die mehr Gerechtigkeit verhindern wollen, verteidigen ihre Interessen besser und wirkungsvoller als jene, die davon profitieren könnten. Weil sie in der Regel - wie Bordieu formulieren würde - mehr kulturelles Kapital, aber auch schnöde mehr Geld haben. Die Bürgerinitiative, die in Hamburg die Schulreform stoppte, besteht im Kern aus einer gut vernetzten Clique von Anwälten.

Diejenigen, die im Bildungssystem nach unten abgeschoben wurden und werden, brauchen Parteien und Verbände, die ihre Interessen vertreten. Wenn linke Parteien wie die Linkspartei, die Grünen und auch die SPD diesen Auftrag ernst nehmen, dann müsste ihre Bildungspolitik wieder radikaler werden - und sie müssten die Systemfrage stellen. Sie lautet: Wie muss das Bildungssystem von der Kita bis zur Seniorenuni aussehen, damit es gerecht zugeht und den Bildungsaufstieg fördert?

Für das Schulsystem heißt das, vor allem die institutionellen Barrieren - also die Eingruppierung von Schülern nach Leistungen in Klassen oder Schulformen - abzubauen. Der ehemalige Chef des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, Jürgen Baumert, wies bereits 2003 nach, dass diese institutionellen Hürden immer mit sozialer Segregation verbunden sind.

Soziale Mischung schadet nicht

Im Klartext: Wann immer Kinder nach Leistung getrennt werden, bleiben sie in ihren Milieus - die einen, bei denen die Gute-Nacht-Geschichte zum Ritual gehört, und die anderen, bei denen Lesen als uncool gilt. Dagegen gibt es keinen Beweis dafür, dass es der Entwicklung der Kinder und ihrer Intelligenz förderlich ist, mit zehn Jahren in vermeintlich leistungshomogenen Gruppen zu landen. Im Gegenteil: wie Baumert gleichfalls feststellte, verlieren Kinder in einer Hauptschulklasse in jedem Jahr mehr an Boden gegenüber den Gymnasiasten. Und diese wiederum sind im internationalen Vergleich nur Mittelklasse.

Würden sich die Wähler von Parteien abwenden, die eine stärkere soziale Mischung der Klassen wollen und auf eine möglichst lange gemeinsame Lernzeit setzen? Nein. 51 Prozent der Mütter und Väter schulpflichtiger Kinder halten das Schulsystem für ungerecht und denken, dass sich Kinder nicht entsprechend ihren Möglichkeiten entwickeln können. Das hat die Bertelsmann-Stiftung, bislang nicht als links verschrien, in einer Umfrage ermittelt. Mehrheitlich sind es Eltern von Haupt- und Realschülern, die so denken - aber immerhin auch 49 Prozent der Eltern von Gymnasiasten.

Also, feige Politiker: Traut euch und euren Wählern mehr zu! Fordert das längere gemeinsame Lernen - aber denkt daran, die Bürger mit einzubeziehen. Und zwar nicht erst, wenn es bereits beschlossene Sache ist, sondern schon in der Planung. Letzteres zumindest haben die Politiker in Hamburg und Stuttgart immerhin schon verinnerlicht.

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