Revolte in Libyen: Wie im Bürgerkrieg
In der libyschen Stadt Bengasi schießen Soldaten auf demonstrierende Gaddafi-Gegner. Laut Human Rights Watch sind in den vergangenen Tagen 104 Menschen getötet worden.
LONDON afp/dpa | Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) berichtete, seit Dienstag seien in Libyen mindestens 104 Menschen getötet worden. Die Zahl beruhe auf Angaben von Medizinern und Augenzeugen, sagte der Direktor des HRW-Büros in London, Tom Porteous, am Sonntag. Wegen der schwierigen Kommunikation in das Land stelle die Zahl jedoch ein unvollständiges Bild der Situation dar. "Wir sind sehr besorgt, dass sich hinsichtlich der Menschenrechtssituation eine Katastrophe anbahnt", sagte Porteous.
Die oppositionelle Website "Libya al-Youm" sprach am Sonntag von 208 Toten. In der Stadt Bengasi habe sich ein Teil der Soldaten den Aufständischen angeschlossen. Einige Städte sollen nach Angaben von Oppositionellen ganz oder zum Teil "befreit" sein. Von unabhängiger Seite ließen sich diese Informationen jedoch nicht verifizieren.
Der arabische Sender al-Dschasira berichtete am Sonntag von bürgerkriegsähnlichen Zuständen in Bengasi. Augenzeugen sprachen davon, dass sich die Stadt in eine "Kriegszone" verwandelt habe. Eine Gruppe von 50 muslimischen Geistlichen appellierte unterdessen an die Sicherheitskräfte, nicht auf Zivilisten zu schießen. "Stoppt das Massaker jetzt", heißt es in der Mitteilung.
Laut Augenzeugenberichten eröffneten Sicherheitskräfte am Sonntag erneut das Feuer auf Regierungsgegner. Ein Arzt in einem Krankenhaus in Bengasi sagte, mindestens eine Person sei während eines Trauermarsches erschossen worden. Weitere 14 seien
durch Schüsse verletzt worden, fünf davon schwer, sagte der Arzt, der nicht namentlich genannt werden wollte.
Ein Mann, dem ins Bein geschossen wurde, berichtete, auf dem Weg zum Friedhof sei der Trauerzug gerade an einem Militärgelände vorbeigekommen, als das Feuer eröffnet wurde. Zuerst hätten die Sicherheitskräfte in die Luft geschossen, dann auf die Menschen.
Laut Augenzeugen haben sich Hunderte Libyer am Sonntag zu neuen Protesten vor einem Gerichtsgebäude in Bengasi versammelt. Sie forderten den Sturz des langjährigen Staatschefs Muammar al Gaddafi. Tags zuvor hatten Spezialeinheiten nach Krankenhausangaben mindestens 15 Menschen getötet, die eine Trauerfeier für 35 getötete Regierungsgegner auf einem Platz in Bengasi besucht hatten.
Offenbar um die Regierungsgegner an Verabredungen zu weiteren Protestaktionen zu hindern, wurde das Internet am Samstag kurz vor Mitternacht erneut abgeschaltet, wie die amerikanische IT-Sicherheitsfirma Arbor Networks mitteilte. Bereits am frühen Samstagmorgen war der Internetbetrieb unterbrochen worden, mehrere Stunden später funktionierte er vorübergehend eingeschränkt wieder, bis er dann wieder unterbrochen war.
Libyen macht eine ausländische Verschwörung für die Unruhen verantwortlich. Die staatliche Nachrichtenagentur Jana verbreitete am Samstagabend, die Sicherheitskräfte hätten Angehörige einer Verschwörergruppe festgenommen, darunter Palästinenser, Tunesier und Sudanesen. Es sei möglich, dass der israelische Geheimdienst seine Finger im Spiel habe.
Anfangs hatten die libyschen Staatsmedien den Aufstand gegen Staatschef Muammar al-Gaddafi völlig ignoriert. Dann war von Saboteuren die Rede, die öffentliche Gebäude zerstörten. Jetzt werden Verschwörungstheorien verbreitet. Fernsehbilder aus den umkämpften Städten gab es bisher nicht. Die Opposition dokumentiert ihren Aufstand in verwackelten Amateurvideos.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen