Kommentar Proteste in Spanien: Viva la APO!
Spanien erlebt den Beginn einer massiven außerparlamentarischen Opposition gegen ein in Misskredit geratenes System. Und die Gefahr einer europaweiten Ansteckung ist groß.
D ie Wirtschaft am Boden, die Arbeitslosenquote in den Wolken, die Konservativen im Aufwind, die radikalen Nationalisten im Höhenflug und die Jugend im ganzen Land auf den Straßen … Das ist Spanien nach den Regional- und Kommunalwahlen vom Sonntag. Der sozialistische Premier José Luis Rodriguez Zapatero hinterlässt keine Baustelle, er hinterlässt eine Ruine.
Bei genauerem Hinschauen sieht das Bild noch erschreckender aus. Millionen von Menschen haben den Glauben an die politische Klasse verloren. Sie fühlen sich nicht vertreten von Parteien, auf deren Listen korrupte Kandidaten vertreten sind.
Der Sieg der Konservativen ist nicht etwa einer Rechtswende zu verdanken. Die Partido Popular hat nur wenige neue Stimmen erobert. Ihre ultrareligiöse Politik, die auf Privatisierung im Bildungs- und Gesundheitswesen setzt und damit die Kluft - dort, wo sie regiert - zwischen oben und unten immer größer werden lässt, ist nicht die Politik einer Volkspartei. Sie bedient ihren Teil Spaniens und ist für den Rest nicht wirklich attraktiv.
REINER WANDLER ist Spanien-Korrespondent der taz.
Für das andere, das fortschrittliche und laizistische Spanien, bricht unterdessen die Welt zusammen. Immer mehr Menschen fühlen sich von den Parteien auf der parlamentarischen Linken, aber auch von anderen großen Organisationen im Stich gelassen. Die Gewerkschaften, die nach einem Generalstreik eine Erhöhung des Rentenalters sowie eine Reform des Arbeitsmarkts abnickten, sind ebenfalls in Misskredit geraten.
Eine neue Kraft, die die Unzufriedenheit in die Gemeinderäte, Regionalparlamente und in das spanische Parlament tragen könnten, gibt es nicht.
All dies zusammen macht den Erfolg der Bewegung aus, die unter dem Motto "Echte Demokratie jetzt!" die Straßen und Plätze des Landes für sich entdeckt hat. Die Protestierenden wollen nicht für eine Krise bezahlen, die von den Banken verursacht wurde. Was bei der "Spanish Revolution" letztendlich herauskommt, weiß keiner zu sagen. Doch einfach wieder verstummen wird die Unzufriedenheit sicher nicht.
Was wir dieser Tage erleben, ist der Beginn einer länger anhaltenden, massiven außerparlamentarischen Opposition gegen ein durch und durch in Misskredit geratenes System. Die Unzufriedenheit, die in Spanien sichtbar ist, gibt es so auch in anderen Ländern der EU. Die Ansteckungsgefahr ist groß.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei VW
Massiver Gewinneinbruch bei Volkswagen
Verfassungsgericht entscheidet
Kein persönlicher Anspruch auf höheres Bafög
VW-Vorstand droht mit Werksschließungen
Musterknabe der Unsozialen Marktwirtschaft
Kamala Harris’ „Abschlussplädoyer“
Ihr bestes Argument
Zu viel Methan in der Atmosphäre
Rätsel um gefährliches Klimagas gelöst
Nahostkonflikt in der Literatur
Literarischer Israel-Boykott