Europa in der Krise: "Auch die Skeptiker brauchen Raum"
Als Konsequenz aus der Verschuldungskrise fordert Jurist Christian Calliess die "Vereinigten Staaten von Europa". Man müsse mit den Rechtspopulisten diskutieren.
taz: Herr Calliess, in diesen Tagen beraten die europäischen Regierungen das zweite Rettungspaket für Griechenland - möglicherweise nicht das letzte. Wie weit darf die finanzielle Solidarität zwischen den Staaten in Europa gehen?
Christian Calliess: Die Frage stelle ich mir auch selbst. Der Schriftsteller Leon de Winter hat unlängst geschrieben: Ich mag die Griechen, aber warum sollten wir ihnen Hunderte Milliarden Euro überweisen?
Kennt Ihre persönliche Leidensfähigkeit als Steuerzahler und Staatsbürger ebenfalls Grenzen?
Christian Calliess (46) arbeitet als Professor für Europarecht an der Freien Universität Berlin. Er hat den von der Europäischen Union verliehenen Jean-Monnet-Lehrstuhl für europäische Integration inne.
Um ehrlich zu sein: ja. Selbst in Deutschland fehlt uns an vielen Stellen Geld. Unsere Universitäten und Schulen stehen unter Spardruck. Trotzdem stelle ich fest, dass ich meinen Begriff von europäischer Solidarität erweitert habe. Bislang erstreckte er sich auf die relativ bescheidenen Finanztransfers zwischen den EU-Mitgliedstaaten, mit denen Straßen gebaut und Landwirte gefördert wurden. Angesichts der Verschuldungskrise meine ich nun aber, dass wir die europäische Einigung nicht dadurch an die Wand fahren sollten, dass wir Griechenland und anderen Staaten finanzielle Nothilfen verweigern.
Über punktuelle Hilfe gehen die Beschlüsse weit hinaus. Mit dem europäischen Stabilitätsmechanismus wird eine weitgehende Unterstützung zwischen den Euro-Staaten vereinbart. Und die Bundesregierung scheint zu hoffen, dass die Bürger dies nicht merken.
Die Rettungspakete und der Stabilitätsmechanismus sind aus der Not geborene außergewöhnliche Maßnahmen begrenzter Solidarität. Die gigantischen Summen können nicht prägend sein für das Europa der Zukunft. Es geht hier nicht um einen Länderfinanzausgleich wie in Deutschland, bei dem zwischen den wohlhabenden und ärmeren Bundesländern permanent große Summen umverteilt werden, um einheitliche Lebensbedingungen zu ermöglichen. Die Finanzhilfen für überschuldete Staaten bleiben auch im Rahmen des permanenten Stabilisierungsmechanismus ab 2013 Ultima Ratio und können nur nach einstimmigem Beschluss der Euro-Finanzminister unter strengen Auflagen und mit Zustimmung des Bundestages gewährt werden. So ist gesichert, dass die Solidarität keine Einbahnstraße bleibt.
Sollte die Bundesregierung die Bürger nicht ernst nehmen und mit der Lebenslüge Schluss machen, dass Europa ohne umfangreiche gegenseitige Unterstützung auskommt?
Die EU ist bis heute kein Bundesstaat, sondern ein föderaler Verbund von Mitgliedstaaten. Deshalb kann die Solidarität nicht so weit gehen wie der Länderfinanzausgleich innerhalb Deutschlands. Es muss und wird auch künftig eine Grenze der gegenseitigen finanziellen Verantwortung geben, die deutlich niedriger liegt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg stand Europa für Frieden und die Rückkehr Deutschlands zu den Werten des Westens. Diese Geschichte hat an Spannung verloren. Welche Erfolgsstory kann man heute erzählen, um die Bürger vom Sinn Europas zu überzeugen?
Ja, was wäre heute die Legitimation Europas? Ich glaube, über die fortbestehende Bedeutung für die Wahrung des Friedens in Europa hinaus ist es die Selbstbehauptung unserer Sozialordnung und Werte.
Selbstbehauptung gegenüber wem?
Gegenüber autoritären Staaten, aber auch gegenüber einem globalisierten Markt, der weniger Regeln kennt, als wir sie uns wünschen. Europa ist einen eigenen Weg zwischen Markt und Staat gegangen. Dieses ausbalancierte und faire Sozialmodell steht in der internationalen Konkurrenz jedoch unter starkem Druck. Nur die Europäische Union als Ganzes hat die Chance, es zu verteidigen. Holland könnte das nicht allein, Frankreich nicht und Deutschland ebenso wenig.
Trotzdem erscheint Europa heute als nicht besonders attraktiv. Liegt das nicht daran, dass die EU immer ein Elitenprojekt war, das die Regierungen vorangetrieben haben, ohne die Bürger richtig einzubeziehen?
Europa begann nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur als Elitenprojekt. Für die Generation unserer Eltern war die Versöhnung mit den ehemaligen Feindesstaaten von hoher Bedeutung. Die Bilder, auf denen junge Leute Schlagbäume an der Grenze zwischen Deutschland und Frankreich niederreißen, wurden ja nicht gestellt. Und heute wird oft verkannt, dass die EU weitaus demokratischer ist als früher. Beispielsweise hat das EU-Parlament mit jeder Vertragsänderung mehr Kompetenzen erhalten. Gerade deshalb ist es ein trauriges Paradoxon, dass die Bürger nun eher eine Distanz gegenüber der EU verspüren.
Ist das Demokratieproblem der EU grundsätzlich lösbar?
Ich frage Sie: Gibt es überhaupt ein Demokratieproblem? Wir, die EU-Bürger, wählen das EU-Parlament in direkter Wahl. Dieses leidet zwar an einem entscheidenden Defizit, weil es die Kommission, also die EU-Regierung, nicht vollumfänglich wählen darf, es verfügt aber gleichwohl über weitreichende Mitgestaltungs- und Kontrollbefugnisse. Neben dem EU-Parlament existiert zudem ein zweiter Strang der Legitimation. Mittels ihrer nationalen Parlamente kontrollieren die Bürger die nationalen Minister im EU-Rat. Dieser macht die Gesetze zusammen mit dem Europäischen Parlament.
Dennoch bemängeln viele Abgeordnete des Bundestages, dass sie die Rettungspakete etwa für Griechenland allenfalls abnicken können. Wie ließe sich dieser Missstand beheben?
Bei den Hilfen in der Verschuldungskrise wirkt das EU-Parlament praktisch nicht mit. Auf diesem Gebiet hat es bisher kaum Entscheidungsbefugnisse. Die Regierungen gestalten die Hilfen vor allem zwischenstaatlich. Die Kontrolle und Legitimation wird damit über die nationalen Parlamente, in Deutschland also den Bundestag erbracht, wenn auch unter großem zeitlichen Druck.
Es entsteht aber der Eindruck, dass der Bundestag nur pro forma einbezogen wird, ohne die wirkliche Freiheit zu haben, "Nein" zu sagen. Warum überträgt man dem EU-Parlament nicht die volle Gesetzgebungskompetenz, um eine umfassende demokratische Legitimation zu schaffen?
Weil die Europa-Skeptiker auch in Deutschland diesen Prozess blockieren. In allen Parteien gibt es große Widerstände, weitere nationale Kompetenzen nach Europa zu übertragen. Vor allem das Bundesverfassungsgericht hat dies in seinem Urteil zum Vertrag von Lissabon weitgehend ausgeschlossen.
Wieso gelingt es nicht, die nationalen Politiker und die Bürger von den Vorteilen einer vollständigen Demokratie auf europäischer Ebene zu überzeugen?
Europa ist nicht irgendein Produkt, das wie Bionade beworben werden kann. Die EU ist ein sehr kompliziertes Gebilde. Sie ist etwas originär Neues - ein föderaler Verbund, viel demokratischer als etwa die Vereinten Nationen oder der Internationale Währungsfonds. Darauf können wir eigentlich stolz sein. Gleichwohl ist diese Komplexität unglaublich schwer zu erklären. Deshalb diskutieren wir auch europäische Probleme meist nur national. Die gesamteuropäische Debatte entwickelt sich nur langsam, aber in Ansätzen ist sie bereits entstanden. So debattieren wir gegenwärtig in Deutschland die griechische Haushaltspolitik - ein neues Phänomen.
Entsteht hier jetzt die europäische Öffentlichkeit, die eine Voraussetzung ist für mehr Demokratie und Legitimation?
Möglicherweise ist das so, und wir können es heute noch nicht richtig einschätzen. Manches sieht man ja erst im Rückblick.
Wie sieht Ihre positive Vision aus, die Sie den Europa-Skeptikern entgegenhalten?
Vielleicht sollten wir einfach sagen: Wir wollen die von Winston Churchill schon 1946 geforderten Vereinigten Staaten von Europa. Dieses große Ziel könnte zu neuem Schwung und neuer Identifikation führen. Das lohnte die Auseinandersetzung. Denn wir sollten viel offensiver über Europa streiten. Auch die Europa-Skeptiker brauchen dabei Raum. Es ist legitim zu sagen: Ich empfinde keine Solidarität mit Griechenland. Dann muss die Regierung eine Antwort finden und erklären: Einen guten Teil unseres Wohlstandes erwirtschaften wir im europäischen Binnenmarkt, durch unsere Exporte unter anderem nach Griechenland. Ohne Europa wären wir weniger wohlhabend.
Diese Offenheit der Debatte wäre für uns neu. Bisher beinhaltet die deutsche Staatsräson die quasi automatische Zustimmung zur europäischen Integration.
Wenn die Euro-Skeptiker Europa ablehnen, kann man dies als Bestandteil einer vertieften europäischen Debatte betrachten. Nicht nur die ökonomische, sondern auch die politische Integration ist inzwischen so weit vorangeschritten, dass dies neue Ängste hervorruft. Selbst der Rechtspopulismus ist ein Bestandteil dieser europäischen Diskussion. Die Skeptiker sitzen ja teilweise auch im Europäischen Parlament, wo sie sich notwendigerweise auf den Gegenstand ihrer Ablehnung einlassen müssen.
Wie sieht die EU in 20 Jahren aus?
Einerseits werden wir mehr Europa haben als heute, andererseits weniger. Die Integration geht weiter, aber sie wird sich verändern. Verschiedene Gruppen von Staaten werden mit unterschiedlicher Geschwindigkeit vorangehen. Eine Gruppe wird dann vermutlich eine gemeinsame Außenpolitik betreiben oder das Rentenalter einheitlich festlegen. Andere Staaten werden dagegen nicht in der Lage sein, an allen Aspekten der gemeinsamen Politik teilzunehmen. Proteste der Bevölkerung wie gegenwärtig in Griechenland können sogar dazu führen, dass ein Land aus der Integration teilweise wieder aussteigt. Europa wird selbstverständlicher, aber auch heterogener und offener.
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