Bildungsakademie zum Thema Demokratie: Ansteckend und unabgeschlossen

Eine Tagung über Demokratie und demokratisches Lernen: In Tutzing kamen 50 Schulklassen zusammen und zeigten, dass Demokratie gelebt werden muss.

Enttäuschte Schüler: Bayerns Kultusminister Ludwig Spaenle konnte oder wollte auf die Fragen der Schüler nicht antworten Bild: Grit Hiersemann

TUTZING taz |Am Luwig-Meyn-Gymnasium in Uetersen haben sie schon das zweite Buch herausgebracht. Ein Projekt der Schule, bestehend aus Schülern der Oberstufe, hat sich daran gemacht, die Nazi-Vergangenheit ihres Ortes zu recherchieren. Nicht Referate oder Facharbeiten sind daraus entstanden, sondern richtige wissenschaftliche Bücher mit vielen Fußnoten. Und mit noch mehr Ungeheuerlichkeiten.

Als nämlich eine Schülerin sich dem NS-Euthanasiearzt Kurt Borm und seiner ungebrochenen Karriere in der jungen Bundesrepublik an die Fersen heftet, bekommt sie etwas zu hören, das man im 21. Jahrhundert nicht für möglich halten mag: "Hören Sie auf mit dieser Forschungsarbeit!", herrscht ein Bekannter des SS-Arztes die Schülerin an. Die Schülerhistorikerin ist schockiert. "Fassungslos hielt ich noch für einige Sekunden den Hörer am Ohr, bis mir bewusst wurde, was soeben geschehen war: Er wollte offensichtlich auf keinen Fall über die SS-Vergangenheit Kurt Borms sprechen, zu dem er viele Jahre einen engen, beinahe freundschaftlichen Kontakt gepflegt hatte."

Dass die Schülerin sich so sicher ist, dass über jedes SS-Vergehen gesprochen werden muss, "damit sich die NS-Verbrechen nicht wiederholen", gehört zu den mutigen Zeugnissen des Projekts "Demokratisch Handeln", ein Bildungs- und Forschungsunternehmen, das 1991 zum ersten Mal Schüler aus ganz Deutschland zusammenholte.

Es war ein Zusammentreffen der dritten Art: hier die feine Dame der Demokratie, Hildegard Hamm-Brücher. Sie hat die Akademie für Politische Bildung erfunden, sie hat das Schülerprojekt "Demokratisch Handeln" initiiert. Auch der Hamm-Brücher-Preis entspringt ihrem Stiftergeist.

Auf der anderen Seite der Neuköllner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD), der den Hamm-Brücher-Preis 2011 mit nach Neukölln nahm. Buschkowsky hielt, was seine Einladung versprach: "Sie glauben doch selbst nicht, dass Rütli-Schüler ihre Stühle aus dem Fenster geworfen haben - dann hätten sie ja stehen müssen. So doof sind Neuköllner nicht." Und weiter: "Integration ist der Überlebenskampf unserer Gesellschaft um Wohlstand." Oder das: "Es gibt viele Neuköllns in Deutschland. Aber ganz Garmisch-Partenkirchen ist betreutes Wohnen." Oder über sein Neuköllner Ganztagsgymnasium: "Ein deutsches Gymnasium mit Deutschförderkursen, das müssen Sie sich vorstellen. Der Philologenverband wollte kollektiven Selbstmord begehen."

Die Jury sagt über Buschkowskys Politik: "Schule muss nicht nur Ort der Integration sein, sondern auch der Anerkennung und umgekehrt natürlich auch von den Jugendlichen als solcher anerkannt werden. Die von Heinz Buschkowsky unterstützten Projekte wie das Albert-Schweitzer-Gymnasium mit seinem Ganztagsprofil und der Campus Rütli zeigen das auf beeindruckende Weise."

Es sind engagierte junge Demokraten, die vorbildliche Projekte an ihren Schulen verfolgen. Erfunden hat das Programm Hildegard Hamm-Brücher, geleitet wird es von Peter Fauser, einem Pädagogikprofessor aus Jena. Die 22. "Lernstatt Demokratie" in der Akademie für Politische Bildung in Tutzing war gespickt mit spannenden Projekten.

Ein waches Mädchen

In Potsdam hat eine Schule sich zum Ziel gesetzt, die Idee der Stolpersteine weiterzuentwickeln. Das heißt, die Schüler setzen nicht nur Gedenksteine aus Messing ins Pflaster, sie machen mehr: Sie erforschen die Biografie der deportierten und ermordeten Juden, sie nehmen Kontakt zu deren Nachfahren auf. Zu den Nachbarn, wie die Schüler sagen, die keine mehr sind. Oder eine sechste Klasse aus Berlin. Sie hat für jeden ermordeten Schöneberger Juden einen Stein. "Menschen, die man vergisst, sterben ein zweites Mal", sagt die elfjährige Nina. Ein waches Mädchen, das von Geschichte viel versteht - und daraus Maßstäbe für ihr junges Leben und das ziemlich alte der Demokratie entwickelt.

"Das einmal gewonnene demokratische Gespür überträgt sich als zivilgesellschaftliche Kompetenz auf andere Felder", resümiert Michaela Weiß, eine Doktorandin, die an der Universität Göttingen zu untermauern versucht, was beim Anblick von Nina und ihrem Mitstreiter Paul offensichtlich zu sein scheint: Demokratie ist ansteckend.

Die Projekte unternehmen viel mehr, als nur die NS-Vergangenheit aufzuarbeiten. Eine Berliner Schulklasse kämpft um die Kinderrechte - mit weit gespanntem Bogen. Die Sechstklässler haben am Reichstag Gregor Gysi und andere Bundestagsabgeordnete gefragt, warum Tierrechte im Grundgesetz stehen, aber keine Kinderrechte. Später haben sie kleine Volksbefragungen in Prenzlauer Berger Cafés veranstaltet. Weil sie glauben, dass die Heizstrahler, unter denen die Cafébesucher schmoren, die unbeschwerte Zukunft des Planeten gefährden - und ihre gleich mit.

Schüler aus dem Saarland haben eine Mobbing-Task-Force eingerichtet, die Alarm schlägt, wenn Schüler andere Schüler mit System necken, ärgern und bedrängen. Eine weitere Schulklasse arbeitet mit einer Blindenschule zusammen - und macht damit vor, was die Kultusminister trotz UN-Ermahnung nicht wahrhaben wollen: dass Sonderschulen kein geeignetes Mittel sind, um behinderte Kinder in die Gesellschaft zu integrieren.

Schüler setzen sich gegen Rektor durch

Wenn die demokratischen Schüler - es reisen stets zwei aus jeder Schule mit einer betreuenden Lehrkraft an - untereinander diskutieren, dann klatschen sie nicht nur, sondern sie schärfen und verbessern ihre Instrumente. Die saarländische Mobbing-Feuerwehr erhält zum Beispiel den Ratschlag, dass es besser wäre, "nicht gleich den Rektor einzuschalten, sondern zunächst den mobbenden Schülern zu zeigen, was sie ihren Mitschülern antun, damit daraus eine eigenständige demokratische Kultur entsteht". Da mag der Rektor auch grummeln, "dass ich im Hintergrund immer wissen muss, was läuft". Die selbstbewussten Schüler lassen das nicht gelten. Sie stärken so die Saarländer Schüler, für die immer der Lehrer das Wort führte.

Das Verhältnis Schüler und Lehrer ist auch in Tutzing ein Knackpunkt. Fast meint man, dass sich die besseren Projekte beinahe alle am gleichen Kriterium festmachen lassen: Es sind solche, die sich aus der freundlichen Umarmung der Lehrer lösen und die wesentlich auf der Initiative der Schüler selbst beruhen.

Am deutlichsten wird der einengende Einfluss der Lehrer in einem Workshop, wo unversehens mehr Erwachsene als Schüler sitzen. Als der Leiter des Workshops darauf hinweist, dass die nicht angemeldeten Erwachsenen das Seminar verlassen mögen, wird es kurzzeitig brenzlig. "Das finde ich jetzt schwierig", murmelt einer der relegierten Erwachsenen. Der Seminarleiter bleibt freundlich bei seiner Haltung. Und später wird jeder im Raum merken, wie recht er hatte. Bei einem Quiz haben die Schülergruppen das Nachsehen - gegen die Erwachsenen.

Aber die Lehrer sind natürlich nicht das Kardinalproblem. Sie begleiten die Projekte und wissen meistens ganz gut, wann sie sich rausnehmen müssen. Die Politiker beherrschen diese Kunst weniger. Nach Tutzing kommt am Abend ein leibhaftiger Minister angereist. Bayerns Schulminister Ludwig Spaenle (CSU) ist es, und er wird zu einer großen Enttäuschung. Über die Fragen der Schüler aus dem Plenum, sei es Atomkraft, Schulstruktur oder Wahlrecht mit 16, legt er einen Redeteppich aus verquastem Politsprech.

Dem Minister nicht über den Weg trauen

Die Jugendlichen werden unruhig und ärgerlich. Ein Elfjähriger bemerkt spontan: "Also meine Frage ist jetzt noch nicht beantwortet." Der 19-jährige Leonhard zerrt den Minister in ein peinliches Kreuzverhör über Politikverdrossenheit. Eine bayerische Abiturientin stellt elegant und präzise Fragen wie im Untersuchungsausschuss. Dem Minister strömt der Schweiß aus allen Poren, leider stoppt sein Redeschwall nicht. Eine beklemmende Lektion. Die Schüler merken: Da sitzt einer, der nimmt uns nicht ernst, der schwindelt uns an - und das auf unserem eigenen Demokratiekongress.

Es ist die Lehre, die sie alle mitnehmen aus Tutzing: Demokratie ist ein großes Wort, aber sie muss jede Sekunde wieder neu erkämpft werden. Weil die älteren Schüler wechseln und die jüngeren die Projekte erst wieder mit Leben erfüllen müssen; weil man selbst einem demokratisch gewählten Minister nicht über den Weg trauen kann.

Hildegard Hamm-Brücher, gerade 90 geworden, unter Schülern aber präsent wie eine junge Frau, sagt: "Ach, Demokratie ist so ein großes Wort. Lebendig wird sie nur durch uns."

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.